„Heimat, Familie und Zugehörigkeit – das geht jeden etwas an“Interview: Leon Vynehall über sein multimediales Album-Projekt „Nothing Is Still“
11.6.2018 • Sounds – Interview: Thaddeus HerrmannAuf seinem neuen Album „Nothing Is Still“ dokumentiert der Brite Leon Vynehall einen Lebensabschnitt seiner Großeltern, die in den 1960er-Jahren aus Großbritannien nach New York emigrierten, um dort ein neues Leben zu beginnen. Was als Projekt für das Familienarchiv begann, entwickelte sich für Vynehall schnell zur multimedialen Herzensangelegenheit aus Roman, Film und eben auch Musik. Die wenig mit dem, für das man den Produzenten bislang kennt und schätzt, zu tun hat.
Seit 2012 sind die eleganten und gleichzeitig dringlichen House-Entwürfe von Leon Vynehall fester Bestandteil jedes guten Dancefloors. Ob auf „3024“, „Running Back“ oder „Aus Music“: Vynehalls Umgang mit Beats, Sounds und Samples ist etwas ganz Besonderes. Auf „Nothing Is Still“ werden diese Karten jedoch vollkommen neu gemischt – für Clubs ist diese Musik nicht gemacht. Sie ist ohnehin nur Teil einer viel größeren Anstrengung, die im Privaten begann. In den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts packte das Ehepaar Vynehall den Überseekoffer in Großbritannien ein und in New York wieder aus. Ein paar Jahre träumen sie den amerikanischen Traum, der schließlich platzte. Es fiel den beiden Auswanderern schwer, in den USA wirklich heimisch zu werden. Vor allem Leons Oma kämpfte erst mit den unterschiedlichsten Jobs und dann mit dem Heimweh – der Überseekoffer wurde erneut gepackt. Eigentlich wollte Vynehall diesen Lebensabschnitt seiner Großeltern einfach nur dokumentieren, Fotos ordnen, kurze Texte dazu schreiben. Nun ist das daraus ein monumentales Werk geworden – zu einem Thema, das auch heute noch und wieder eine zentrale Rolle in unser aller Leben spielt: belonging. Wer bin ich, was will ich, wo will ich hin, darf ich das überhaupt und vor allem: Komme ich damit klar? So hat Vynehall erst eine Novelle geschrieben, dann ein Album produziert und schließlich einen Film dazu gedreht. Alles super, alles herzerwärmend, aber auch alles sehr privat.
Dein neues Album ist weit mehr als nur die Musik – es ist ein komplexes Geflecht aus Sounds, Bildern, Videos und einem Roman. Das gehört zunächst seziert. Was kam wann und warum?
Das Projekt begann vor vier Jahren, als mein Großvater starb. Wir trafen uns damals bei meiner Großmutter, um gemeinsam zu trauern, Zeit miteinander zu verbringen und uns an ihn zu erinnern. Meine Großmutter ist eine fantastische Geschichtenerzählerin. Ich wusste, dass sie gemeinsam mit ihrem Mann – meinem Opa – ein paar Jahre in New York verbracht hatte, kannte aber die Details nicht. Irgendwie war es nie zur Sprache gekommen. Sie holte alte Fotografien aus dieser Zeit heraus, wir sahen sie uns gemeinsam an. Ich fing schnell an Fragen zu stellen: Wo ist das? Wer ist das? Was war hier los? Ich wollte alles über die Zeit meiner Großeltern in New York wissen und quetschte meine Oma förmlich aus. Mir ging es zunächst darum, diese Periode für unsere Familie aufzuarbeiten und zu archivieren – die Fotos zu ordnen und mit kleinen Text-Passagen zu versehen und sie so zu kontextualisieren. Am Anfang war also das Wort. Doch als all die Fotos auf dem Tisch lagen und ich sie aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln anschaute, dachte ich: Das wäre ein tolles Plattencover. Und ein Cover braucht Musik. So formte sich ganz langsam die Idee, daraus auch ein Album zu machen.
Bleiben wir noch einen Moment beim Buch. Musiker ja in den seltensten Fällen auch Schriftsteller.
Die Novelle ist gemeinsam mit Max Sztyber entstanden. Ein großartiger Schreiber und ein alter Freund von mir. Wir haben in Bands zusammen gespielt, in denen die Lyrics immer von ihm stammten. Zu Beginn hatte ich ihn nur darum gebeten, mir bei den kurzen Texten zu helfen, es sollte keine zusammenhängende Geschichte daraus werden. Aber wir merkten schnell, dass das, was meine Großeltern in New York erlebt hatten, nicht nur für meine Familie wichtig ist, sondern dass es da einen größeren Bogen gibt, eine gesellschaftliche Relevanz. Also haben wir alles etwas verfremdet und abstrahiert und eine Novelle daraus gemacht. Die Musik entstand parallel. Ich wollte das unbedingt machen. Das dann noch in einem Kurzfilm zu visualisieren, war die dritte Komponente, die sich daraus entwickelt hat – fast schon automatisch. Das war ein sehr organischer Prozess, auch wenn ich das Wort eigentlich hasse und lieber nicht verwende. Hier passt es aber.
Ist es nicht schwierig, eine so persönliche Familiengeschichte zu einem Produkt zu machen? Man gibt viel preis. Wir sitzen hier und ich frage dich nach deinen Großeltern.
All das wäre so nie passiert, wäre meine Oma damit nicht einverstanden gewesen. Sie hat es explizit erlaubt und mich darin bestärkt. Mir hat dabei das enorm geholfen, was ich gerade schon erwähnt habe: Das ist eine Geschichte, die nicht nur meine Großeltern erlebt haben. Es ist eine Geschichte über Heimat, Familie und Zugehörigkeit. Das geht jeden etwas an.
Und aktueller nicht sein könnte.
Das stimmt natürlich, auch wenn ich diesen Zusammenhang nicht in den Vordergrund stellen möchte. Darum ging es nicht. Die Geschichte spielt in der Vergangenheit und soll auch so verstanden werden. Es ist vollkommen okay, wenn man das Setting auf die gegenwärtige Situation anwendet, aber das muss jeder für sich selbst entscheiden. Ich gebe zu, dass die Parallelen klar auf der Hand liegen. Die Geschichte hat sich ja in den 1960er-Jahren abgespielt. Und das waren in den USA radikale Zeiten: Bürgerrechtsbewegung, der Vietnam-Krieg ... das sind Stichworte, die heute in den Debatten in den USA wieder eine große Rolle spielen.
„Ich wollte das nicht ausschließlich mit Maschinen erzählen.“
Reden wir über die Musik. Auch die zeigt eine neue Seite von dir.
Sagen wir so: Ich verstehe, wenn dieses Album als Bruch wahrgenommen wird mit dem, was ich zuletzt beispielsweise auf Running Back veröffentlicht habe. Aber ich habe schon immer die unterschiedlichsten Arten von Musik gemacht, und immer das Gleiche zu tun, liegt mir nicht. Die LP auf Running Back und das neue Album sind sogar zeitgleich entstanden. Für mich war es klar, dass ich diese Geschichte nicht mit einem Dancefloor-Blick würde umsetzen können. Das beginnt schon bei der Instrumentierung. Ich wollte das nicht ausschließlich mit Maschinen erzählen. Es mussten Menschen spielen – immerhin geht es in der Geschichte ja auch um Menschen. Ich war bei der Produktion nicht nur auf andere Musiker angewiesen, weil ich nun mal kein Cello spielen kann. Ich brauchte ihre Kreativität, mit der sie meine Kompositionen interpretieren. Ich habe bei allen Aspekten des Projektes unglaublich viel gelernt. Dafür bin ich sehr dankbar.
Authentizität jenseits der Quantisierung.
Authentizität ist genau das, worum es mir ging. Ganz egal, wie toll und ausgefuchst der neueste Sample-Pack des Symphonieorchesters XY klingt: Die Nuancen im Spiel, die mir vorschwebten, lassen sich einem Computer nicht abringen. Überraschung: Menschen kann man besser anleiten. Selbst wenn ich den Dirigenten spiele. Der Prozess macht einen Unterschied. Die Musiker setzen sich hin, man gibt ihnen die Noten und ganz rudimentäre Anweisungen – spielt das bitte schön! Und schon im ersten Take klingt es unglaublich. Super, dachte ich, haben wir im Kasten. Natürlich stimmte das nicht. Aber viele Details, die jetzt in der finalen Version ganz wichtig sind, haben sich erst in der steten Interaktion zwischen uns allen herausgeschält. Ich habe ihnen immer wieder Passagen aus der Novelle vorgelesen, sie auf das Kapitel eingestimmt, um ihnen klar zu machen, worum es geht. Einem Computer kann man nichts vorlesen. Und schon gar nicht sagen: Spiel’ das mal so wie in dieser einen Szene aus „Casablanca“. Natürlich wollte ich nicht, dass irgendetwas auch nur im Entferntesten wie Casablanca klingt.
Hat dich die Umsetzung dieses Projektes verändert?
Unbedingt. Zunächst musste ich einen mir bislang vollkommen unbekannten Workflow erlernen – das hatte viel mit Disziplin zu tun. Ein Track ist ein Track. Man sieht oder hört etwas und baut daraus etwas Eigenes, nimmt es als Inspiration. Hier jedoch ist ein Stück Familiengeschichte die Basis – die Novelle war für mich eine klare Handlungsanweisung, die alles Weitere bestimmt. Ich habe das als ausgesprochen interessant empfunden und würde gerne weiter in dieser Richtung experimentieren – etwas unter ganz klaren Regeln und Vorgaben umzusetzen. Etwas, das nicht wirklich deins ist, sondern ein Projekt, zu dem du etwas beitragen kannst. Für einen Film zum Beispiel.
Ist deine Oma glücklich damit, wie du das alles umgesetzt hast?
Sie war buchstäblich geplättet. Sie ist jetzt fast 80, erst vor ein paar Tagen hat sie mir eine SMS geschrieben: Habe das Buch gelesen und fühle mich, als wäre ich wieder in New York. Mehr Feedback brauche ich nicht. Das bedeutet für mich, dass ich alles richtig gemacht habe. Denn es ging mir von Anfang an nur darum, das alles für sie aufzuarbeiten.