Gute ProduktionenFolge 1: Talk Talk – Laughing Stock (Verve, 1991)
8.12.2022 • Sounds – Text: Thaddeus Herrmann, Illustration: Susann MassuteMusik ist ein Fixstern im Filter-Universum. In der Reihe „Gute Produktionen“ nähern sich unsere Autor:innen Alben weniger aus der unmittelbar emotionalen Perspektive, der Aktualität oder diskursiver Dringlichkeit. Sondern hören vielmehr ganz genau hin. Was macht diese Alben so besonders? Wie wurden sie produziert? Und warum? Für die erste Folge nimmt sich Thaddeus Herrmann „Laughing Stock“ vor, das fünfte und letzte Studioalbum von Talk Talk.
Stille. Was ist das eigentlich?
Über diese Frage habe ich in den vergangenen Jahren immer wieder nachgedacht. Die Ausgangsposition? Die Geräusche der menschengemachten Welt drücken mich mehr denn je auf die Streckbank des emotional Aushaltbaren. Gleichzeitig irritieren mich Momente der Stille. Auch sie kann ich nicht lange aushalten.
Was ist also Stille? Und vor allem: Wie klingt sie?
Talk Talk lieferten 1991 eine der finalen Antworten. Final, weil: „Laughing Stock“ ist überhaupt nicht still, ganz im Gegenteil. Das fünfte und letzte Album der Band um Mark Hollis ist vielmehr die bislang passendste Definition des Begriffs „Stille“ in der (mehr oder weniger) populären Musik. So viel los. Und trotz immer wieder aufpulsender Lautstärke so still. So in sich. So mit sich. Und ja: so für sich. Ich war nicht dabei, musste die emotionalen Blutlachen der Beteiligten nicht aufwischen. Thank God! Und eine der finalen Antworten, weil das Album – gemeinsam mit seinem Vorgänger „Spirit Of Eden“ von 1988 – so viele Echos in der Musikgeschichte hinterlassen hat, dass Idee und Sound bis heute nachhallen.
Woher, wohin?
Am Talk-Talk-Album „Laughing Stock“ haben sich schon viele Kolleg:innen der schreibenden Zunft umfassend abgearbeitet: aus gutem Grund! An enigma wrapped in a puzzle? Das ist Talk Talk. Wie kann es sein, dass eine Band, die mit gefälligen Pop-Tunes – mehr oder weniger zufällig elektronisch produziert – erst zu fulminantem Weltruhm kommt und sich dann mit zwei Alben mit Ansage in ihre molekularen und nicht mal mehr im Ansatz elektronischen Einzelteile zerlegt? Auch darüber wurde viel spekuliert und recherchiert. Mal klanglich analysiert, mal mit seltenen O-Tönen aus dieser Schaffensperiode belegt. Die Schnittmenge all dieser Forschungen lässt sich schnell zusammenfassen: Talk Talk war immer nur Mark Hollis. Der Sänger der Gruppe bestimmte die musikalische Richtung. Und die war – glaubt man den Erzählungen – geprägt vom technisch Möglichen. Das ist zunächst keine Überraschung, muss im Falle von Hollis, Lee Harris und Paul Webb jedoch entgegengesetzt zum Trend der 1980er-Jahre verstanden werden. Der anfängliche Fokus auf Synthesizer war, so die Mär, vor allem der Tatsache geschuldet, dass die Band kein Geld für „echte“ Instrumente hatte (was überhaupt keinen Sinn ergibt), bzw. die Musiker:innen, die diese Instrumente hätten spielen sollen, nicht bezahlen konnte (schon glaubwürdiger, aber auch nicht wirklich schlüssig). Der Plattenfirma EMI gefiel das sicher, schnupperte die A&R-Abteilung doch mit Hit-Singles wie „Such A Shame“ oder „Dum Dum Girl“ in die Zeit passende Konkurrenz und Marktanteile zu anderen „Jungs mit Synths“-Bands.
Dass dieser Sound nicht der musikalische Masterplan von Hollis war, zeigte sich schon beim dritten Album der Band – „The Colour Of Spring“ von 1986. 14 zusätzliche Musiker (komplette Männerveranstaltung, klar) und ein Kinderchor sorgten gemeinsam mit dem Produzenten Tim Friese-Greene für neue Klangfarben und einen neuen Ansatz im Studio. Heute wird der „hybrid“ genannt. Das ist gehypter Code für die schlichte Tatsache, dass Musiker:innen, die sich vor allem im elektronischen Rahmen einen Namen gemacht haben, nun auch nicht-elektronische Instrumente für ihre Produktionen einsetzen. Damals klebte auf dieser „Überraschung“ noch kein Sticker. Auch der Begriff „organisch“ war in Rezensionen noch nicht erfunden. Aber: Die Mitarbeit der 14 Studiomusiker und der Name Tim Friese-Greene spielen bei der Geschichte von „Laughing Stock“ eine tragende Rolle.
A new deal
1990 war die Welt von Talk Talk maximal angetrümmert. Das Album „Spirit Of Eden“ von 1988 war musikalisch zwar sensationell, kommerziell aber eher ein Flop. Mit der EMI lag die Band im Streit. Und mit dem legendären Jazz-Label Verve wurde schließlich ein neues Zuhause für Talk Talk gefunden. Keine Einmischung in die Produktion und ein unbegrenztes Budget: Das waren die beiden Grundbedingungen des neuen Arrangements der Plattenfirma mit der Band. Wir müssen dankbar sein, dass solche Deals selbst 1990 überhaupt noch möglich waren. Das Internet mit all seinen monetären Konsequenzen für die Musikindustrie steckte noch in den Kinderschuhen. Labels waren vornehmlich damit beschäftigt, ihre bestehenden Kataloge zum wiederholten Male an Musikfans zu verkaufen – diesmal auf CD. Die Transition ins Digitale war noch längst nicht abgeschlossen. Ironie der Geschichte. Hätte die CD ein Argument für ihre Lebensberechtigung aus dem popmusikalischen Universum gebraucht: „Laughing Stock“ wäre das Killer-Argument gewesen. Und so ging Mark Hollis ins Studio. Um genau dieses Album aufzunehmen.
Bassist Paul Webb hatte sich bereits verabschiedet. Vielleicht war ihm die Stille nicht ganz geheuer. Für Hollis (der Musiker starb im Februar 2019 im Alter von 64 Jahren) war sie essentiell, „extrem wichtig. Sie sollte nicht missbraucht werden. Und das ist meine größte Sorge. Die Art und Weise, wie sich die Kommunikation entwickelt hat, neigt dazu, ständig dieses Hintergrundrauschen zuzulassen, anstatt darüber nachzudenken, was wichtig ist,“ sagte er in einem Interview mit Richard Skinner auf BBC Radio 1 zitiert aus der großartigen Analyse von Wyndham Wallace für „The Quietus“.
Digital ist besser
Das Setting? Die Wessex-Studios in London. Das Personal? Umfangreich. Bis zu 50 Musiker:innen sollen für die Entstehung dieses Albums gespielt bzw. improvisiert haben. Schlappe 90 Prozent dieses Materials wurden einfach weggeschmissen und gelöscht. Die Improvisation stand bei der Produktion von „Laughing Stock“ im Mittelpunkt. Minimale Vorgaben und ein kategorisches Nein zum zweiten Versuch. Hollis glaubte an die Kraft des Ursprünglichen und Initialen. 18 Menschen werden als Mitwirkende auf dem Cover gelistet, inklusive der „Band“ selbst: Hollis, Harris, Friese-Greene. Die Aufnahmetechnik oblag Phill Brown, einem Engineer, der zuvor u.a. mit David Bowie, Led Zeppelin, Bob Marley und Cat Stevens gearbeitet hatte. Diese Referenzen sind hier natürlich mindestens sekundär, wenn nicht sogar vollkommen unwichtig. Wichtiger ist die Information, dass der Techniker amtlich gelitten hat. Die Dunkelheit im Aufnahmeraum, das konstante Verwerfen von Ideen, die immer präsente Zerrissenheit der Ausführenden. „Blessed love“ singt Hollis im Eröffnungs-Track „Myrrhman“. So jemanden darf und kann man doch nicht stoppen. Hören wir ihm einfach zu.
Die Stimme eines künstlerisch Getriebenen. Dass das Album irgendwann, nach Monaten intensivster Arbeit, wirklich fertig wurde, ist auch der digitalen Technik geschuldet. Ein komischer Gedanke, oder? „Laughing Stock“ klingt alles andere als digital. Doch ob neuer Möglichkeiten bei der Aufnahme konnte sich Hollis ein großes Archiv – eine Basis – anlegen, um im direkten A/B-Vergleich unmittelbar zu entscheiden. Bleibt. Geht. Wird gepresst, ist Teil meiner Idee, passt zu ihr. Wie der Einsatz des Digitalen faktisch aussah, ist nicht überliefert. Sound Tools von Digidesign steckte noch knietief in der Beta. Das ADAT von Alesis war noch nicht erfunden, auch wenn vergleichbare Systeme, mit denen Audio digital auf VHS-Tapes aufgenommen wurde, in Studios schon Einzug gehalten hatten. Und die Wessex-Studios im Londoner Norden dürften gut ausgestattet gewesen sein. Sex Pistols, Queen, The Rolling Stones, King Crimson, XTC und The Damned hatten im ehemaligen Gemeindezentrum der St. Augustine's Church bereits aufgenommen. Seit den 1980er-Jahren gehörte der Komplex der Matrix Recording Studios Group, die insgesamt sechs Studios in London betrieb. Es wird einigermaßen komfortabel gewesen sein.
Stille Staffelung
Eigentlich klingt „Laughing Stock“ überhaupt nicht spektakulär. Bei den sechs Kompositionen geht es weder um klangliche Überwältigung noch um extreme Räumlichkeit oder Tricksereien im Stereo-Panorama. Das wirklich Spektakuläre ist die Intimität der Aufnahmen. Aufnahmen, bei denen so gut wie alles mehr oder weniger aus der Mitte des Sweet Spots kommt, von den Becken des Drumkits mal abgesehen. Hollis, Friese-Greene und Brown entschieden sich für einen anderen Ansatz.
Still und unprätentiös finden Instrumente und Gesang zusammen, reichen den Staffelstab der jeweils nur wenige Takte dauernden Dominanz freundlich weiter. Nicht die Aufnahmen müssen die eigentliche Hölle gewesen sein, sondern der Mixdown. Die Ausschläge in der Dynamik außen vor: Ich kenne wenige Produktionen, in denen das musikalische Storytelling von Instrument zu Instrument, von Mikrofon A zu Verstärker B, in so kurzen Zeiteinheiten hin und her wandert und die Geschichte doch kohärent weiter erzählt wird – verpackt in einer dicken Schicht Watte.
Hohe Frequenzen? Maximal angetäuscht, wenn überhaupt existent. Sie sind der Stimme von Hollis vorbehalten, die uns wie eine Fackel den Weg aus der Dunkelheit weist. Oder den Ausbrüchen der Rhythmus-Gitarre, zum Beispiel bei „Ascension Day“. Die Crew im Studio wird selten bis gar nicht die Fenster aufgemacht haben – und das hört man. Es ist mollig – im Sinne von warm. Genau diese Wärme lässt sich heute immer schwieriger nachvollziehen. Ein paar Remasters später hat das Album im Streaming zwar nichts von seiner klanglichen Faszination verloren, die Details verwässern aber zusehends. Das Original-Vinyl ist unerschwinglich. Die Reissue auf „Ba Da Bing!“ von 2011 klingt überhaupt nicht gut (das Gleiche gilt für den Repress von Hollis’ Solo-Album auf eben jenem Label). Ich muss gestehen: Unter dem Kopfhörer (ja, Bluetooth) ertrage ich die Platte kaum bis gar nicht. Läuft „Laughing Stock“ aber einfach „nebenher“, entfaltet die Musik genau die Magie, die – These! – die Crew in den Wessex-Studios zwischen September 1990 und April 1991 von Beginn an im Kopf hatte. Vielleicht war die Prämisse damals schon: Wir halten hier alles tight, der Rest entfaltet sich in den Lounges und Wohnzimmern der Hörer:innen. Genauso ist es noch heute. Nähe tut dieser Platte nicht gut. Sie braucht räumliche Distanz, um ihre ganze Kraft zu entfalten und dem Strahlen des Kompositorischen Raum zu gewähren.
Dieses Strahlen und diese Kraft – it’s the Strahlkraft, Stupid! – überstrahlt auch heute noch viele Versuche, dieses Musik- und Produktionsprinzip zu kontern. Schenken wir uns die Schulterblicke in die Producer-Arbeit von Tim Friese-Greene der folgenden Jahre und erwähnen erst gar nicht „Pygmalion“ von Slowdive, auch wenn dieses Album in der Rückschau ähnlich episch ist. „Laughing Stock“ ist ein sanfter Bolide der Musikgeschichte.