Ein Mothership voller EmotionenHior Chronik, RAMZi, Jlin: drei Alben, drei Phänomene, drei Meinungen
20.12.2017 • Sounds – Gespräch: Christian Blumberg, Kristoffer Cornils, Thaddeus HerrmannKurz vor knapp blicken Blumberg, Cornils und Herrmann auf das Musikjahr 2017 zurück und widmen sich anhand von drei Alben einigen der Phänomene, die das Plattentrio in den vergangenen zwölf Monaten umtrieb. Die kalkulierte Wohlklang-Attacke der Neo-Klassik, 4th-World-Ästhetiken und dem einer Wurzelbehandlung ähnelnden Auf-die-Synapsen-Bimmeln des Dancefloors. Drei Arten des Eskapismus, erzählt und produziert auf ganz unterschiedliche Weise. Die Suche nach dem Mothership geht weiter, auch 2018.
Hior Chronik – Out Of The Dust
Thaddeus: Wir wollen ja zum Jahresende eher über Phänomene sprechen – die Platten, die wir dafür ausgewählt haben, sind also stellvertretende Beispiele, Anknüpfungspunkte. In diesem Fall ein wie ich finde sehr positives Beispiel für etwas, was mir in diesem Jahr so richtig übel aufstieß: die so genannte Neo-Klassik. Was das ist oder sein soll, wird ohnehin in den Marketing-Abteilungen immer größerer Plattenfirmen entschieden, der käsige Wohlklang labbriger Fingerübungen am Klavier wird dann als die große neue Einfachheit und vor allem natürlich als Brückenschlag verkauft, sobald auch nur an einer Stelle so was wie ein Synthesizer mal kurz in den Track reinblökt. Das neue Album von Hior Chronik kann man so verhandeln, das wäre meiner Meinung nach aber vollkommen falsch. Der Grieche ist schon seit vielen Jahren unterwegs, hat sich in den unterschiedlichsten Bereichen ausprobiert und kommt nun mit tatsächlich orchestralen und sehr weichzeichnerischen Tracks daher – und bringt sie bei K7 raus. Dort hat man die Neo-Klassik gerade als Lösung für die Krise entdeckt und mit 7K! gleich ein Sublabel dafür gegründet. Die URL lautet tatsächlich 7klassik.com, was bislang doch einigermaßen irreführend ist. Die bisherigen Releases sind nicht nur sehr respektabel, sondern passen meiner Meinung nach auch gar nicht zu dem Begriff. Tolles Zeug, zum Beispiel von Martyn Heyne. So. Ihr.
Kristoffer: Mich hat das Phänomen in diesem Jahr recht kalt gelassen, weil alle Promo-Mails immer sofort in den Äther der Belanglosigkeit zurückgebounct wurden. Mein Postfach hat da eine härtere Türpolitik als jeder Berliner Club. Diese Platte allerdings habe ich mir dann doch mal angehört, weil bald Weihnachten ist und ja irgendwer mitreden muss. Erstaunlich finde ich diese Dark Jazz-Untertöne. Also nicht erstaunlich, weil sie da sind, sondern weil sie so etwas wie einen, ha, Brückenschlag zur Ursuppe dieses kruden Phänomens aufmachen. Das Ganze fing ja etwa vor zehn Jahren so richtig an, als sowohl Erased Tapes sich gründete und zugleich auf Denovali nach all den Post-Hardcore und Metal-Platten auch mal Soundtrack-Musik rauskam. Soundtrack-Musik zu Filmen, die nie gedreht wurden, bliblablup, Bohren und der Club der Epigonen. Jedenfalls: Da scheint dieser Grieche dann immerhin einen sinnigen Zirkelschluss zu fahren, in so gesehen musikhistorischer Hinsicht. Das Gute am Album an sich: Es nervt mich nicht sonderlich. Es ist recht egal, bisweilen aber erinnert es mich manchmal sogar an Deaf Center und andere Projekte, denen ich durchaus einiges abgewinnen kann. Das ist okay. So. Christian.
Christian: Ich habe ein grundsätzliches und quasi-politisches Problem mit diesem Biedermeier, der im Begriff der Neo-Klassik ja schon anklingt. Bei Hior Chronik kommt ganz konkret noch ein anderes dazu, ich versuche es mal am Beispiel der Streicher kurz zu erklären: Die spielen ständig mit ornamentalem Vibrato und produzieren so ein permanentes Beben. Das wird dann noch in einen semi-sakralen Hallraum eingelassen. Das sind alles so Strategien, um das Intensitätslevel ganz hoch zu halten und das Ziel ist wohl irgendwie Tiefe, Erhabenheit, Überwältigung und so was. Ich empfinde das in Konzentration und Kalkuliertheit aber als beinahe emotional übergriffig. Diese Musik ist so ergriffen von sich selbst, dass ich da sofort aussteige. Diese einsam herumwehenden Saxofone fallen da in ein ganz ähnliches Register, das ist so Atmosphärendesign.
Kristoffer: Den Vorwurf des Kalküls würde ich hier nicht unbedingt vorbringen, erst recht nicht im Kontext des großen Ganzen: Vielen der Neo-Klassik-Heinis ist es ja todernst mit all ihren emotions und feelings, die sie da zum Ausdruck bringen wollen. Daran anschließend würde ich aber umso mehr deinem anderen Punkt zustimmen: Selbstergriffenheit ist hier das Stichwort. Und da wären wir dann auch beim Biedermeier angelangt, denn natürlich ist das extrem mittelschichtiger Feierabendeskapismus. Musik, die sich auf so semi-hippe Mehrzwecktheaterhallen verteilt und ein Publikum anzieht, das mir komplett fremd ist. Vielleicht ist das mein persönlich-proletarisches Problem – Marx sein. Aber dieser gesamte Gestus hat für mich auf eine Art etwas wohlwollend Elitäres. Instagram-Influencer state of mind. Diese Platte hier allerdings kann ich durchaus ertragen, warum, habe ich schon gesagt. Thaddi, wieso kommst du mit der klar?
Thaddeus: Vielleicht, weil ich die Musik von Hior Chronik schon seit Längerem verfolge und mich sein neues Album im Vergleich eher positiv überrascht. Es nimmt eine neue Richtung auf, die mich generell interessiert. Ich habe mit Erhabenheit überhaupt kein Problem, im Gegenteil. Ihr wisst ja mittlerweile selbst am besten, was ich mag und warum. Bei diesem Album hier habe ich unterschiedliche Referenzen im Kopf, die es für mich dann vielleicht besser dastehen lassen als es eigentlich ist. Vollkommen egal. Wir müssen über die Schuldfrage sprechen. Neo-Klassik. Weil es ist ja nicht abzusehen, dass sich dieses Phänomen bald wieder verabschiedet. Im Gegenteil. Also: Wer ist schuld?
Christian: Vielleicht Max Richter bzw. sein Erfolg?
Thaddeus: Jan Garbarek?
Kristoffer: Weder noch oder zumindest nur zum Teil. Ich würde tatsächlich auf Bohren zurückkommen und noch einen Schritt weitergehen: Hardcore und Metal. Muss ich erklären, klar. Dass Bohren als ranzige Doom-Metal-Band begonnen hat, ist ja hinlänglich bekannt. Aber selbst Ólafur Arnalds, der zu Anfangstagen das größte Zugpferd von Erased Tapes war, hat mit Metalcore angefangen oder früher noch mit Punk: War glaube ich Drummer in einer isländischen Band. Sein Solo-Debüt hat er aber ausgerechnet auf dem Abschluss-Track eines Albums der thüringischen Bollo-Band Heaven Shall Burn gefeiert. Grusel. Dass Denovali aus der Ecke kamen, hatte ich bereits erwähnt. Ich denke, Mitte der Nullerjahre ist ein Entschleunigungstrend eingetreten, der auch vor diesen Genres nicht Halt gemacht hat: Quiet was the new loud, das schlich sich so rein. Und da sind wir dann tatsächlich bei vulgären Distinktionsmaßnahmen angekommen: Privat höre ich Musik mit Tasteninstrumenten, wo niemand drüberschreit. Obwohl sich Neo-Klassik natürlich genau das nicht auf die Fahne schreibt. Vorgeblich geht es immer um, Thaddi sagte es bereits, den Brückenschlag: Zwischen E und U, Konzertsaal und Club oder wie auch immer. Aber deswegen erwähnte ich vorhin auch das Publikum. Das sieht meistens so gar nicht aus, als würde es zwei Welten in sich vereinen, sondern aus Berlin-Mitte anreisen. Und klar treffen da durchaus auch mal Generationen zusammen. Aber die haben dennoch durchgängig einen Bausparvertrag. Das macht selbst vor diesem Punk-, Hardcore- und Metal-Hintergrund immer noch Sinn: Das ist dieser Tage ebenfalls ein sehr kleinbürgerlicher Zeitvertreib.
Christian: Ok, ich erinnere mich an ein Interview mit Nils Frahm in der Zeit, in dem er erklärte, es sei heutzutage Punk, wenn das Publikum beim Erased-Tapes-Abend im Stadtschloss zu Celle ganz still dasitzt und andächtig zuhört. Das ist aber schon eine fragwürdige Reduktion bzw. Verdrehung von Punk als ein ganz banales Anti-Sein – und es täuscht darüber hinweg, dass diese ganze Neo-Klassik-Wolke eben sehr wohl zeitgeistig ist, auch wenn Frahm das vielleicht nicht wahrhaben will: Denn das ist ja kein schöner Zeitgeist, sondern ein restaurativer. Allein die Vorstellung vom genialischen Künstlersubjekt, vom Meisterhaften und was da teilweise alles wieder mit aufgekocht wird! Das hat mit Punk als Kulturtechnik nun wirklich nichts zu tun. Der andere Punkt wäre, dass sich da offensichtlich ein musikalisches Vokabular etabliert hat. Und das verkauft sich anscheinend so gut, dass es ausreicht, dieses Vokabular einfach immer nur zu reproduzieren. So weit so normal. Wenn man aber nur Genrekonventionen abspult, wie ernst meint man es denn dann mit den eigenen feelings und emotions? Ich habe ja nichts gegen Musik die einfach nur vibet, aber wenn man sich unbedingt ausdrücken will, dann geht das doch nicht über das Abrufen von, naja, Klischees, oder?
Thaddeus: Absolut. Das immer gleichförmige Durchdeklinieren der selben Ideen ist eines der Dinge, die ich am meisten kritisiere. Der Remix ist also in den Mehrzweckhallen angekommen. Ich frage mich, was aus den ganzen Musikern geworden wäre, wenn sie nicht plötzlich entdeckt hätten, dass man mit sowas Geld verdienen kann.
Kristoffer: Die wären zurück in die Agenturen gegangen, aus denen sie gekommen sind!
Thaddeus: Ja neee. Das ist doch genauso Quatsch wie die Bausparverträge in Mitte. Komm’ schon.
Kristoffer: Ich reproduziere hier ebenso nur Klischees, klar, aber ich fühle sie halt echt. Nein, logo, du hast recht: Ich bin hier auch sehr selbstgenügsam (und einfallslos) in meiner Abkanzlung des Ganzen. Aber das Neo-Klassik-Phänomen irritiert mich auf eine Art, die ich nur schwer in Worte fassen kann. Wie gesagt, ich nehme all diesen ganzen Typen – es sind fast nur Typen – ja ab, dass sie diese Musik total ernst meinen, da viel reinstecken und denken, sie würden da etwas Neues schaffen, in dem sie zwei Welten zusammenbringen. Ich halte das in den seltensten Fällen für kalkulierte Business-Entscheidungen, die werden meiner Auffassung nach eher auf Labelseite getroffen. Neue Meister, jetzt K7 – alle wollen noch mal schnell die Sau durchs Dorf treiben in der Hoffnung, es bleibt was dran kleben. Selbst die Deutsche Grammophon! Und warum? Weil niemand mehr diese dummen Mozart-Boxen kauft und vor Weihnachten höchstens noch ein Dutzend Bach-Oratorien über die Dussmann-Theke gehen.
Thaddeus: Dann halte ich fest: Wir beiden Jóhannsson-Fans gehen mal zu einer dieser Neue-Meister-Soireen Unter den Linden und schauen uns die Misere aus der Nähe an. Außerdem bleibt zu konstatieren, dass die Labels nach wie vor der Feind sind – daran hat sich also auch 2017 nichts geändert. Next!
RAMZi – Pèze-Piton
Christian: Next ist RAMZi? Definitiv Musik ohne Bausparvertrag oder Riester-Rente – um im Bild zu bleiben. Großer Hype natürlich auch. Also es geht hier, erstmal ganz unkonkret, wohl um Alienation und Exotismus. Früher war RAMZis Musik auch noch so ein bisschen mehr Internet, inzwischen driftet sie leider ab und zu ins Muckerhafte, ist dabei aber zum Glück nicht humorlos. Wie hier die Flöten lostuten: Das empfinde ich schon als angenehm albern. Das bricht auch das sich anbietende Bild einer Musik, die sich mit vollem Ernst an so 4th-World-Ästhetiken andocken will. Die waren ja 2017 ein großes Thema. Trotzdem hat „Pèze-Piton“ Passagen, die beinahe trancig sind. Vielfalt ist da also nicht gerade Königin, da setzt RAMZi schon eher auf die Wiederholungsmuster von Clubmusik, da ist zum Beispiel der ewig gleiche Rhythmus, der einen langsam einsaugt.
Kristoffer: Ich bin etwas unschlüssig, was dieses Album anbelangt. Ich mag’s ganz gerne, aber dieser repetitive Charakter verliert über Albumlänge zunehmend an Energie, finde ich. Wie eine House-Platte das eben tut. Denn für mich ist das im Grunde noch eher House als alles andere. Kein Zufall, dass RAMZis letzte EP auf Mood Hut, der Slacker-House-Institution überhaupt, rausgekommen ist. Das wird eventuell an der geografischen Nähe liegen – die Produzentin ist Kanadierin –, im Grunde aber denkt sie damit schon weiter, was in dieser Musik immer schon implizit zu hören waren: quote unquote tropische Vibes. Tropical House war 2017 zwar ein Mainstream-Phänomen, Grüße an Ed Sheeran, aber im Underground wird ebenso sehr damit geflirtet. Angefangen von Dancehall und Reggaeton-Grooves, wie sie etwa auf dem ganz, ganz tollen Debüt von DJ Python zu hören waren bis eben genau hierhin. Ich höre auch ein wenig Komik, aber es ist keine Blödeligkeit. Die Entfremdungseffekte, die du angesprochen hast, tun sich mir wohl genau deswegen kaum auf. Dafür finde ich die Musik zu homogen: RAMZi schafft keine Brüche, alles ist sehr durchgängig.
Thaddeus: Ich finde die Tracks nicht tropisch, sondern auf eine ganz unscharfe Art und Weise trippig. Lange nicht mehr verwendet dieses Wort, natürlich aus gutem Grund – ich assoziiere damit allerhand Furchtbares, was auf diese Platte hier gar nicht zutrifft. Im schlimmsten Fall erinnert mich die Produktion an wirklich unschönen Digidub aus dem UK der Neunziger. Aber das blitzt nur einige wenige Male so in meine Ohren rein. Ich borge mir den Sager von Kristoffer: Die Platte stresst mich nicht. Gibt aber auch wenig her. Alles recht pleasant, aber die große Geschichte erschließt sich mir nicht.
Kristoffer: Ja, das ist auch meine Meinung. Ich mochte die EP auf Mood Hut, hab sie mir artig gekauft, mehrmals gehört und auch mal aufgelegt. Aber auf LP-Länge? Da fehlt mir der rote Faden, das Konzept. Digidub ist ein gutes Stichwort, vielleicht böte sich auch das 4th-World-Schlagwort erneut an, wie es 2017 ubiquitär war. Dieselbe Diskussion hatten wir schon im Fall von Visible Cloaks. Nur sehe ich das bei RAMZi weder durch Humor noch kritisch-ästhetische Distanz gebrochen. Das ist eher bei Leuten wie Japan Blues oder Don’t DJ der Fall, würde ich sagen. Hier scheint es mir vielmehr um eine neue Form- und Klangsprache zu gehen, die auf eine globalisierte Musikwelt reagiert. Denn viel spannender noch als als 4th-World-Reissues waren ja die globalen Clubsounds, die von einer sich langsam dezentralisierenden Musikindustrie zeugen. Kollektive von NON über NAAFI bis hin zu Staycore und Club Chai, die irgendwo zwischen Identitätspolitik und Bandcamp-Grind ihre Mitte finden. Die lösen, denken ich, noch eher das Versprechen ein, welches uns die Neo-Klassik geliefert hat. RAMZi empfinde ich da als eine Art Annäherung aus dem kalten Nordwesten.
Thaddeus: Okay, kenne ich alles nicht – außer Bandcamp-Grind –, aber ich glaube dir das mal.
Christian: Der ausgegrabene Begriff der 4th World ist mir dieses Jahr nicht ganz klar geworden, er wird aus meiner Sicht recht unterschiedlich benutzt. Da geht es mal um eine Verbindung von traditioneller Musik und digitaler Produktion, dann wieder um Symbiosen zwischen – musikalisch gedacht – Westen und Nicht-Westen, sorry für diese dezent logozentristische Formulierung. Und bei RAMZi liegt die Betonung dann, schon wegen der Verfremdungseffekte, vielleicht eher auf dem Kreieren eines Raumes, der sich eben gegen kulturelle Identifizierbarkeiten sträubt, wobei man da – wie bei allen Beispielen, die gefallen sind – natürlich fragen kann, was genau da für Bewegungen in der Musik stattfinden.
Kristoffer: Ich finde, dass uns RAMZi hier sehr träumerische Bewegungen serviert. Alles ist sehr warped und weit weg, vor allem die Vocal-Samples, die ich etwa auf keine Sprache beziehungsweise Kulturkreis eindampfen könnte, manchmal nicht mehr auf ein Geschlecht. Das hat fast etwas burialeskes, dieser Umgang mit den Vocals, die so verschlafen durch den Raum wandern. Entfremdung hattest du vorhin schon genannt, Exotismus auch. Vielleicht aber ist es auch Eskapismus mit Richtung Unbewusstes unter Clubbedingungen. Wie gesagt würde ich diese Platte, wäre ich Hardwax-Angestellter, eher bei House als im Outernational-Sortiment in die Crates stecken. Wobei ich da schon den Versuch sehe, einer entwurzelten Traumlogik zu folgen. Jon Hassell reloaded, wenn wir so wollen, aber unter durchaus unter anderen Vorzeichen: Sie hat ja kein erklärtes Programm und wir nur diese Platte, die sich dann wieder ganz schön unseren Erklärungsmustern entzieht. Vielleicht habe ich sie mir soeben erfolgreich schön geredet.
Christian: Es ist also gewissermaßen Anti-World-Music. Bei Jlin könnten wir vielleicht aufnehmen, was du gesagt hast. Da kriegt man das vielleicht etwas konkreter in den Blick.
Jlin – Black Origami
Kristoffer: Im Fall von Jlin würde ich eigentlich ein ganz anderes Fass aufmachen. Obwohl es wohl eine Verbindungslinie gibt, die über die sogenannte Deconstructed Club Music führt, die meines Erachtens im seltensten Fall wirklich Derridance Music ist. Jlin macht hier etwas … na ja, sorry, aber: komplett Neues. „Black Origami” dekonstruiert vielleicht noch am ehesten im engeren Sinne dieses geschundenden Begriffs und zwar nichts weniger als dieses Ding namens Clubmusik, indem sie den Groove als einzelne Soundereignisse zerdenkt. Als Schablone dient noch sehr entfernt der Chicagoer Footwork-Sound, aber selbst dessen Strukturchaos ist nichts gegen diese Beat-Stochastik hier. Das ist großartig. Aber auch unhörbar. Ich finde dieses Album fantastisch, aber ich kann’s nicht mehr als einmal alle zwei Monate geben. Ich habe sie auch mal live gesehen, das muss ungefähr zur Entstehungszeit gewesen sein. Nach zehn Minuten habe ich aufgehört, so zu tun, als würde ich überhaupt den Versuch unternehmen, dazu zu tanzen. Dann habe ich mich nur über die Anlage geärgert, die das nicht adäquat abbilden konnte, was da passierte. Aber worauf wolltest du eigentlich hinaus? Was mir beim Wiederhören auffiel: Ich habe hier sehr oft an zeitgenössische afrikanische Clubmusik gedacht. Shangaan-Electro-Sachen, wie sie in den letzten Jahren über Honest Jon’s in den globalen Norden gewuchtet wurden, oder in seinem Sounddesign an Gqom. Das war aber schon alles und vor allem ist das meine recht ignorante Assoziation: Ich kenne leider zu wenig zeitgenössische afrikanische Clubmusik.
Christian: Ich wollte erstmal nur darauf hinaus, dass es sich hier vielleicht um eine Rückführung von Footwork zum Mothership handelt und somit irgendwie auch konkret nach Afrika.
Kristoffer: Den Impuls kann ich verstehen. Wenn Clubmusik in diesem Jahr von etwas heimgesucht wurde, dann von einer frenetischen Wurzelsuche, die zumeist eher an eine Wurzelbehandlung denken ließ. Ich denke allerdings, dass wir Jlin komplett unrecht damit täten, wenn wir solche Rückführungen überhaupt versuchen. Ich habe sie mal interviewt. Damals sprach sie unter anderem darüber, dass sie eigentlich nie auf Footwork-Partys unterwegs ist. Stattdessen standen Zwölf-Stunden-Schichten und danach Mitternachtsworkouts vor Ableton auf dem Programm. Klingt nach Genieästhetik, eh, ich finde das Resultat jedoch tatsächlich losgelöst von allem anderen. Das hat mit Footwork höchstens noch um fünf Ecken etwas zu tun. Zwei Alben, die ich noch am ehesten als Vergleich heranziehen würde, kommen einerseits von Errorsmith und andererseits von Equiknoxx. Das liegt einerseits am nervenaufreibenden Umgang mit Rhythmen und andererseits an dieser übertrockenen Produktion. So ein Jlin-Track bimmelt härter auf die Synapsen ein, als Autechre es je getan hätten, und doch ist das Ergebnis für mich zumindest noch zehnmal so reizüberflutend. Ein Konnex zu RAMZi fällt mir da allerdings ein: die Vocal-Schnipsel. Da steckt dann schon etwas Footwork drin, RP Boo und so. Nur wird hier das Organische nicht lysergisch in Hustensaft aufgelöst, sondern schlicht zerfleddert. Damn.
Thaddeus: Ich mag keine Hand-Percussion, das erschwert mir den Zugang zu ihrer Musik also von vornherein. An nervenaufreibende Elemente in Musik habe ich mich ja mittlerweile einigermaßen gewöhnt. Womit ich nicht richtig klarkomme, sind die überzeichneten Arrangements, die sie hier konsequent fährt. Du hattest vorhin „Schablone“ erwähnt, Kristoffer – das ist genau mein Punkt. Einerseits rauscht das ja alles ziemlich frei an einem vorbei, ist dabei aber enorm überstrukturiert und folgt einer ganz strikten Abfolge von Patterns. Genau diese beiden Dinge lösen einen Gegensatz in mir aus, den ich beim besten Willen nicht auflösen kann. Ein Baukasten-System, fast schon sonatenhauptsatzförmig, alles ganz klar geregelt. Und dennoch herrscht ein undefinierbares Chaos. Interessant finde ich diese Art von „Thema“, das sich meinem Empfinden nach durch die Platte zieht: Eine überhöhte Autorität, die immer wieder in der Form einer männlichen Stimme den Sample-Wust durchbricht und zweifelhafte Ansagen macht. Das verstehe ich nicht. Wie alles andere übrigens auch nicht. Einen großen Moment kann ich dann auf dem Album aber doch identifizieren, den Track „Nyakinyua Rise“, der auch rhythmisch aus dem Rest der Stücke ausbricht, und eine Art Marschrhythmus simuliert und karikiert. Das ist als gesetztes Statement beeindruckend. Weil sie ein paar Takte später den Beltram auspackt und somit der Geschichtsschreibung des Techno rückwärts von hinten einen Dolch in die Brust stößt. Das mag ich sehr gerne. Bisschen assoziativ, aber in meinem Kopf hat das gepasst.
Kristoffer: Passt aber gut zu dem Phänomen, zu dem wir uns durch das Soundchaos hindurch einen Weg schlagen wollten. Wie gesagt dominierte 2017 in der Clubmusik eine Back-To-The-Roots-Bewegung, bei der es vor allem um sozialpolitische Fragen ging. Alben wie die von Octo Octa und Honey Dijon wären da beispielsweise zu nennen: Da geht es nicht mehr nur allein um die Funktionalität von Clubmusik, sondern auch deren gesellschaftliche oder subkulturelle Funktion. Auf der anderen Seite haben wir nach wie vor eine Techno-Tradition, die einem schwammigen Zukunftsbegriff nachjagt. Was nur leider wieder mal nur bedeutet, dass viel White Noise in die Tracks reingezogen wird und am Ende kommen überholte Dystopie-Metaphern bei raus. Yawn. Was Jlin uns dagegen alternativ präsentiert ist, finde ich, ein tatsächlicher future shock. Ich habe den Toffler tatsächlich die Tage mal in der Hand gehabt und quergelesen, wobei mir wieder mal auffiel, wie positiv dieser Begriff in den letzten Jahrzehnten umgedeutet wurde. Toffler meinte mit dem future shock ja eine Art Krankheitszustand, in dem wir uns – beziehungsweise die Menschen der ausgehenden Sechziger- und beginnenden Siebzigerjahre – nicht mehr auf die rapiden Veränderungen des Alltagslebens einstellen können. Das hier ist die Platte dazu, nur eben im Jahr 2017 angesiedelt, wo wir mittlerweile bei allen Schreckensnachrichten nur noch motorisch weiterswipen. Zumindest habe ich mich selten in den letzten Jahren so sehr von einer Platte heraus- und überfordert gefühlt wie von „Black Origami”. Nicht immer positiv, aber unbedingt nachhaltig.