„Die besten Momente sind die, an die man sich nicht mehr erinnern kann“Zwischen Improvisation und Elektronik – der Schlagzeuger Samuel Rohrer im Interview
5.2.2020 • Sounds – Interview: Matti HummelsiepEr hat das Instrument von der Pike auf gelernt und doch kein Interesse an vermeintlichen Traditionen. Wenn Samuel Rohrer Schlagzeug spielt, bedeutet das: freie Improvisation. Auch in der Wahl seines Instrumentariums schert sich der Schweizer nicht um Konventionen: Trommeln und Becken hier, Modularsysteme, Synths und Filter da: Triggern lässt sich schließlich alles. Gemeinsam mit Max Loderbauer und Claudio Puntin gründete er das Schnittstellen-Trio Ambiq und lies Remixe von Künstlern wie Ricardo Villalobos und Tobias anfertigen. Nun erscheint „Continual Decentering“, sein neues Album. Im Studio gemacht, aber unter Live-Bedingungen. Jazz eben. Matti Hummelsiep hat ihn getroffen.
Mal klirrt es verwegen, wenn Samuel Rohrer mit dem Stick den Beckenrand auf- und abfährt. Mal spielt er mit Bedacht auf verschiedenen Stellen der Trommeln, setzt einzelne Schläge und verfremdet Klänge am elektronischen Setup neben ihm. Er schaut konzentriert, manchmal hat er seine Augen geschlossen. Man schaut gerne hin, wenn er spielt, wie er spielt – um dann zu hören, was er spielt. Keine Noten, kein Konzept, rein intuitives Agieren am perkussiven Instrumentarium – ganz der Jazzer. Plötzlich aber fliegen die Sticks nur so über Snare, Trommeln und Becken, die Sounds türmen sich zum Gewitter. Fast sieht es aus, als spiele der Körper von allein.
Samuel Rohrer hat das Schlagzeug schon in Kindertagen für sich als Soloinstrument entdeckt. Sein Vater nahm ihn mit zu Konzerten, von da an gab es kein zurück mehr. Er übte, gab mit 16 Jahren seine ersten Konzerte und studierte in Bern an der Swiss Jazz School.
Obwohl im klassischen Jazz groß geworden, hat sich sein Stil hin zur freien, elektronisch beeinflussten Improvisation gewandelt, während derer in seinem Kopf die völlige Klarheit herrscht und er ganz dem Gefühl folgt. Eigentlich etwas, was gerade eh in Mode ist: achtsam sein, auf sein Inneres hören, Energiequellen ausloten. Wer sich in diesem Sinne auch auf Rohrers Klangwelt einlässt, hat ein intensives Erlebnis vor sich.
Das jahrelange Probieren hat aus Rohrer einen der innovativsten Schlagzeuger seiner Generation gemacht. Künstler wie Max Loderbauer (zusammen mit Claudio Puntin als Trio Ambiq), oder Ricardo Villalobos zählen genauso zu seinen Spielpartnern, wie die Grammy-Gewinnerin und Allround-Künstlerin Laurie Anderson. Ein Pioniergeist, der eine ganz eigene Kreuzung aus akustisch-intensiven, elektronisch-flirrenden Komponenten zu einem eigenwilligen, arrhytmischen Hybrid aus mystischem Dub, melodischen Flächen und flackernden Beats und Anti Beats aufzieht.
Nun erscheint Anfang Februar das Album „Continual Decentering“ – auf seinem eigenen Label Arjunamusic Records. Ein Gespräch über den Jazz als Lebenseinstellung, wie man sich am besten in Trance spielt und warum es eigentlich egal ist, ob man gerade perfekt spielt.
Was reizt dich am Schlagzeug, das sich ja im Prinzip nur auf rhythmische Komponenten bezieht?
Jeder Rhythmus ist auch eine Melodie, genauso wie eine Melodie auch immer einen Rhythmus beinhaltet. Simpel betrachtet sind bereits zwei Schläge, mit jeweils verschiedenen Stimmungen, eine Melodie. Das Schöne daran ist, dass die einzelnen Instrumente eines Schlagzeugs frei kombinierbar und beliebig zu erweitern sind. Daraus ergeben sich individuelle Klangwelten, die immer wieder verändert werden können. Der Zugang zum Schlagzeug ist für einen Zuhörer sicher abstrakter und komplexer, als zum Beispiel der zum Klavier. Beim Spielen ist genau das die Herausforderung, eben gerade nicht abstrakt, sondern melodisch zu denken. Das inspiriert mich immer wieder neu.
Beim Songwriting geht es vor allem um die Songstruktur, an der gefeilt wird, bis sie zufriedenstellend ist. Wie ist das bei dir als Improvisationsmusiker?
In der Improvisation entsteht der Song im Moment. Genau in diesem Moment konzentriert sich zum einen die jahrelange Erfahrung, die man sich beim Spielen und Komponieren angeeignet hat. Zum anderen geht es aber auch um das Vertrauen, nämlich den Schöpfungsmoment zuzulassen, Kontrolle abzugeben und die Musik von selbst entstehen zu lassen. Man agiert dann nur noch als Ventil.
In jedem Fall ist es radikal.
Es gibt auf dem aktuellen Album Stücke, die ich rein technisch womöglich besser hätte spielen können. Am Ende war mir aber der Moment bei der Aufnahme im Studio wichtiger. Ich rede von magischen Momenten, die kaum reproduzierbar sind. Ich habe mir über die Jahre zwar ein komplexes Setup angeeignet, dem viel Forschen und Denken zugrunde liegt. Die Magie entsteht aber erst, wenn ich all dies vergessen kann und nicht darauf fokussiert bin, die perfekte Version einer fertigen Idee zu spielen. Ich lerne immer mehr, meine subjektive Betrachtung abzulegen und mein Können und meine hohen Ansprüche in den Hintergrund zu stellen. Da muss man schonmal über seinen eigenen Schatten springen, obwohl ich mich eigentlich als Perfektionist bezeichnen würde.
Du hast Jazz in der Schweiz studiert, das Studium aber abgebrochen. Warum?
Ich hatte die Lust an der Musik verloren. An der Hochschule in der Schweiz hat mich das traditionelle Denken zu sehr eingeengt. Bei einer Musikgattung wie dem Jazz, die ja eine schon etwas längere Tradition hat, gibt es immer wieder Leute, die dir sagen wollen, wie etwas zu sein hat. Das war für mich immer unverständlich, da diese Musik doch frei sein soll. Mich hat die individuelle, freie Form schon immer mehr interessiert, anstatt etwas richtig oder falsch zu spielen. Während einem Studienaufenthalt in Boston kam die Lust dann wieder.
Ist Jazz auch eine Art Lebenseinstellung für dich?
Eigentlich nur. Ich kann die Musik ja nicht von meinem Leben trennen. Der Begriff Jazz bedeutet vor allem Freiheit für mich. Ich verstehe Jazz heute nicht mehr als Stilistik, sondern als eine Philosophie, der man musikalisch Ausdruck verleiht: sich frei machen, sich vertrauen, im Moment sein, nicht denken, sondern intuitiv handeln, nicht urteilen, sondern zulassen. All dies, was man heute ja an allen Ecken hört. Freie Improvisation ist genau das. Und genau das passiert auch im Alltag, wenn man einen offenen Geist bewahrt, oder sich einen solchen anzueignen vermag. Für mich hat das auch viel mit Selbstreflexion und Selbstanalyse zu tun.
Das Schlagzeug ist ein sehr körperliches Instrument. Eine Rampensau bist du aber nicht.
Ich fühle mich meistens sehr wohl auf der Bühne, aber ich bin sicher keine Rampensau. Ich war vor kurzem in Basel und habe mit Tänzern für ein neues Stück geprobt. Interessant ist, dass Tänzer, deren Instrument der Körper ist, darin aufgehen, wenn sie körperlich präsent sind. Bei mir passiert eigentlich genau das Gegenteil: Die inspirierte Musik entsteht dann, wenn der Körper nicht mehr existiert, wenn die Hindernisse und die Begrenzung der Körpers aufgelöst werden. Für diesen Zustand muss man aber natürlich zunächst eins mit seinem Körper sein. Man kann ja nicht etwas loslassen, was vorher nicht vorhanden ist. Verstehst du, was ich meine?
Ich denke schon. Klingt auf jeden Fall trippy.
Ist es eigentlich auch. Die besten Momente sind meistens die, an die man sich nicht mehr erinnern kann. Wenn die ständig urteilende Stimme in deinem Kopf verschwindet, kann plötzlich etwas Relevantes entstehen. So erlebe ich das immer wieder. Du bist in einem Zustand, wo du nicht mehr analysierst, kein Wille da ist. Nur die pure Klarheit.
Wirst du von diesen Zuständen überrascht, oder führst du sie herbei?
Ich weiß mittlerweile, wie ich diesen Zustand erreichen kann. Der Sound auf der Bühne spielt dabei eine große Rolle, aber vor allem natürlich mit welchen Musiker*innen ich zusammenspiele. Ich kann im Grunde nur noch mit denen spielen, die genau diesen Zustand kennen und suchen. Alles andere ist nicht mehr möglich.
Du kommst aus dem akustischen Bereich. Wann hast du dich für einen elektronischen Einfluß in deine Musik geöffnet?
Vor ungefähr zwölf Jahren habe ich das erste Mal Kontaktmikrofone an Becken und Trommeln geklebt und einfach rum probiert. Schlagzeugklänge sind ja meist kurz und verklingen sehr schnell. Ich habe nach Möglichkeiten gesucht, Flächen herzustellen, um Klänge zu formen und zu dehnen, zum Beispiel leise Klänge groß werden zu lassen. Irgendwann hab ich mein elektronisches Equipment, welches über die Jahre gewachsen ist, zu Aufnahmen und Konzerten mitgenommen. Dadurch wurde es immer mehr Teil meines Instrumentariums.
Wie sieht dein Setup aus?
Neben dem herkömmlichen Schlagzeug, welches aus mehreren Trommeln besteht, benutze ich Glocken, Becken und alle möglichen akustischen Klangerzeuger. Diese schleuse ich durch Delays und andere Effekte. Dazu habe ich Pads mit elektronischen Schlagzeug- und Percussion-Sounds, welche sich zum Teil sehr gut mit den akustischen Trommeln mischen. An den Trommeln habe ich Trigger angebracht, die mit dem Modular-Synthesizer verbunden sind, der aus verschiedenen Oszillatoren, Filtern und sonstigen Klangquellen besteht. Zum Setup gehört auch eine alte Kalimba und eine Zitter, die ich elektronisch abnehme. Dann gibt es noch einen OP1, einen Korg Minilogue und einen Moog, die ich meist melodisch nutze, oder um die abstrakten Klänge harmonisch oder melodisch zu erweitern und zu definieren. All dies spiele ich simultan.
Hast du für dich den idealen Sound gefunden?
Ich würde sagen, ich komme diesem langsam näher. Ich habe das Gefühl, dass momentan viel zusammenkommt und meine Suche langsam Sinn macht. Natürlich beeinflusst dieses Klangorgan, welches über die Jahre entstanden ist, auch mein Spiel sehr stark. Durch das Triggering-System entstehen mit nur einem Anschlag immer wieder neue Klänge. Je nach Sound oder Textur verändert sich dann zwangsläufig mein Spiel. Es braucht viel Erfahrung und Übung, um zu wissen, welche Klänge wie entstehen und wie diese am besten zu spielen und zu kombinieren sind. Dies ist anspruchsvoll und benötigt große Flexibilität. Momentan muss ich eher aufpassen, dass ich mich vor lauter Ideen nicht zu sehr zerstreue.
Wie beschreibst du selbst deine Musik?
Es ist schwierig, seine eigene Musik aus der Distanz zu betrachten. Das überlasse ich lieber anderen. Mich fasziniert jedoch die Komplexität in der Einfachheit. Also eine Musik, die kommunikativ ist, die ehrlich ist und einen intuitiven Ursprung hat. Für mich muss die initiale Idee der Musik immer erst gefühlt werden, bevor sie entsteht und weiterentwickelt werden kann. Im Grunde geht es mir womöglich um dieses Gefühl. Daraus entsteht im Idealfall eine Musik, die sich bei genauem Hinhören vielschichtig und erzählerisch verdichtet. Sie sollte ein gewisses Geheimnis in sich tragen.
Was glaubst du, kommt von deiner Energie beim Publikum an? Ist das überhaupt wichtig für dich, wenn du spielst?
Das Publikum ist natürlich sehr wichtig. Da die Musik aus dem Nichts kommt, ist die gesamte Umgebung extrem beeinflussend. Die Musik verändert sich, je nachdem wo und für wen ich spiele. In kleinen Clubs spürst du die Energie der Leute sehr stark. Da kommt sofort etwas zurück. Je größer die Bühne, umso weniger bekommst du mit, was im Publikum abgeht.
Was geben dir die Leute für Feedback?
(lacht) Ich habe schon öfter gehört, dass ich das Instrument nicht spiele, sondern dass ich zu meinem Schlagzeug werde. Das gefällt mir. Diese totale Verschmelzung mit dem, was man macht. Das meinte ich ja bereits vorhin: Es geht mir nicht um die Person, sondern um die Musik, die durch einen entsteht.