Fragmente einer GroßstadtTodesangst in der Komfortzone
8.6.2016 • Leben & Stil – Illustration & Text: Kristina WedelWir leben ja hier in einer ziemlich flauschigen Komfortzone. Jeden Tag nehmen die meisten von uns drei größere oder kleinere Mahlzeiten zu sich. Schlagzeilen können wir lesen oder auch nicht. Mitten im Welt-Geschehen befinden wir uns aber selbst wohl eher selten, zumindest nicht aktiv.
Spontan treffen wir uns mit Freunden auf einen Drink am Abend. Nun, da der Sommer in Berlin eingekehrt ist, können wir uns kaum entscheiden, was wir am Wochenende tun sollen: Grillen im Park, Raven am Nachmittag auf dem Open-Air, an einen der umliegenden Seen radeln und sich abkühlen, über den Markt schlendern und Eis essen und so weiter ... Wofür wir uns auch entscheiden – wahrscheinlich haben wir Spaß und liegen abends unversehrt und müde im Bett. Was soll auch passiert sein? Schlimmstenfalls hat uns wohl ein kurzer Regenschauer überrascht.
Vergangenen Sonntagmorgen stehe ich vor der gleichen Entscheidung: Sonne brillant. Beste Freundin hat Zeit. Was könnten wir tun? Irgendwas zwischen aktiv und nicht-zu-anstrengend. Der perfekte Mittelweg: Boot fahren. Hatten wir beide lang nicht mehr gemacht. Also auf zum Ostkreuz. Beim Bootsverleih angekommen trifft schlimmstenfalls ein: Ein kurzer 15-minütiger Schauer überrascht uns. Aber der kann unserer Laune keinen Strich durch die Rechnung machen. Wie erwartet brennt uns kurz darauf wieder die Sonne auf der Haut. Also husch husch ins Bötchen.
Untrainiert sind wir beide nicht, auf die Arme geht das Paddeln trotzdem. Mit mittlerer bis langsamer Geschwindigkeit schippern wir in Schlangenlinien auf dem Rummelsburger See los in Richtung südöstlicher Spree. Wir haben viel zu bereden: Job, Urlaub, Balkonpflanzen, Beziehungskram. In der Zwischenzeit zieht der Himmel wieder zu, Wolken verdichten sich, nicht weiter tragisch. Aber beim zweiten Donner beschließen wir, vorzeitig umzukehren, aufgrund unseres schlecht einschätzbaren Rückweges wegen gezickzacktem Fahrstil.
Meine beste Freundin neigt zur Schreckhaftigkeit. Diesmal kann ich zum ersten Mal in unserer gemeinsamen Geschichte ihr Gefühl teilen, als sie zusammenzuckt und sorgenerfüllt verkündet: „Da war ein Blitz“ – „Wie, wo?“ – „Hinter dir. Auf dem Wasser!“ – „Auf dem Wasser?“ – „Aber ja doch!“ Wir geben alles. Voller Adrenalin stechen wir Paddel nach Paddel in den See. Fünfmalsoschnell wie vorher. Schlangenlinien fahren wir immer noch. Ungeduldig und panisch. Schnell zum Rand. Da ist die Gefahr doch kleiner, oder?! Vom Ufer aus erreichen uns schmunzelnde Blicke der Passanten, die den Ernst der Lage nicht erkennen, sondern zwei hysterische Mädels sehen, die Angst vor dem nächsten Schauer haben. Keiner, außer meiner Freundin, scheint den Blitz gesehen zu haben. Nachdem sie mir genau beschreibt in welcher Zickzack-Form er aufs Wasser getroffen ist, habe ich keine Zweifel an seiner Wahrhaftigkeit und mir wird nicht wohler. Zum ersten Mal verspüre ich eine Angst, die alles übertrifft. Die plötzlich alle anderen Ängste irrelevant macht. Die nennt man wohl Todesangst.
Wir befinden uns irgendwo zwischen Surrealität und Albtraum. Ich bin mir nicht sicher, was uns mehr antreibt: Dass wir um den Ernst der Lage wissen oder dass wir eben nicht so en détail um den Ernst der Lage wissen. Ist auch egal, Hauptsache ans Ufer. Geladen erreichen wir den Bootsverleih. Adrenalin fließt in Strömen. Der Bootsmann reicht einer nach der anderen die Hand und stabilisiert unseren Ausstieg aus dem Boot. Wir erzählen ihm vom Blitz. Den hat er nicht bemerkt. Wir bekommen die Hälfte des Preises zurück wegen vorzeitiger Rückkehr. Rückkehr in unsere Realität, in der wir uns so sicher, geradlinig und komfortabel bewegen dürfen.