When music’s nice, we play it twice!Buchrezension: „Who Say Reload” von Paul Terzulli und Eddie Otchere
31.3.2021 • Kultur – Text: Steffen KorthalsDie Geschichte von UK Hardcore über Jungle bis zu Drum and Bass: „Who Say Reload – The stories behind the classic Drum and Bass records of the 90s“ erzählt sie in Interviews und Fotos – und anhand einer Auswahl von über 40 einflussreichen Tracks als roten Faden. Der Nummer-1-Bestseller der britischen Amazon-Buchcharts (!) ist nicht nur für Nerds interessant, sondern ist zugleich eine Oral History über Selbstermächtigung, dem Streben nach Innovation und utopische Orte in Musik und Clubkultur. Steffen Korthals stellt das Buch vor.
Autor Paul Terzulli unterstreicht im ersten Satz des Vorwortes, dass sein Buch aufgrund der subjektiven Musikauswahl eben keine komplette Geschichte über die Wurzeln von Drum and Bass sein kann. Doch die chronologische Reihenfolge der Stücke erlaubt, sowohl die Entwicklungen im Hardcore Continuum als auch das Entstehen einzelner Jungle- und Drum-and-Bass-Genres nachzuvollziehen. Terzulli wurde durch HipHop und Tapepacks von frühen Jungle Raves musikalisch sozialisiert. Seine Selektion ist stimmig, beginnend 1990, im Schatten des zweiten Summer of Love und der einsetzenden UK-Hardcore-Ära, mit der dunklen Rave-Breaks-Bleep-Paranoia von 4 Heros „Mr Kirk’s Nightmare“ (Reinforced Records) sowie der upliftenden Fusion von Reggae, Breakbeat, Soundsystemkultur und Acid in The Ragga Twins‘ „Spliffhead“ (Shut Up & Dance Records).
Bis 1998 und Bad Companys „The Nine“ reicht die Auswahl und enthält Klassiker, die mal jazzy und melodisch sind, mal mehr jamaikanische Musikeinflüsse akzentuieren oder Funk, Techno sowie Experimentelles in Jungle und seinen Ausprägungen als atmosphärische Varianten, Ragga-Jungle, Drumfunk, Metalheadz- oder Bristol-Sound hervorheben. Natürlich sind auch genuine Drum-and-Bass-Platten ab 1995 sowie JumpUp, TechFunk und TechStep als Spielarten vertreten. Bei der Trackauswahl hat der Autor offensichtlich die Bekanntheit der Tunes und die Anzahl der geforderten Rewinds neben ihrem historischen Stellenwert im Hinterkopf gehabt. Rebel MC, Jonny L, Dillinja, DJ Die, Photek und andere Künstler*innen, deren Stücke musikalisch die Genres geprägt haben, jedoch nicht von jedem DJ im Stundentakt auf den Raves gedroppt wurden, sind nicht vertreten. Es hätte bei rund 40 Stücken jedoch auch keine annähernd vollständige Sammlung sein können. Des Weiteren kann es bei einem solchen Buchprojekt sein, dass nicht alle angefragten Künstler*innen antworten.
Interviews und Storys hinter den Tunes bespricht „Who Say Reload“ weniger – warum und wie welche Hi-Hat geschnitzt wurde etwa –, sondern es geht eher um die Entstehungskontexte und Rezeption der Musik. Ohne zu viel spoilern zu wollen: Es gibt spannende Aussagen zu entdecken, die exemplarisch für den Aufbruchsgeist britischer Breakbeat-Musik gelten können. „Rule number one was to do something different“, betont so z. B. Lawrence Gus (Reinforced). Welche Energie auf den Floors entfacht wurde, darauf weist Fabio hin: „There would be a sea of people that were resonating not just on the buzz of the drugs but the buzz of energy that was being shared within the music” (siehe auch die Horns-, Whistle und Publikum-MC-Kakophonie-Extase bei dieser CD-Aufnahme des legendären A.W.O.L-Rave 1995).
Die Akteur*innen wählen im Buch Beschreibungen, die ebenfalls heute gelten können, wie ferner das, was A Guy Called Gerald über Jungle- und Drum-and-Bass-Sausen sagt: „The rave scene was a mixed bag of people and that’s what made it fresh and kept it new”. Der Innovationsanspruch, das Benutzen von Technik gegen die Anleitung, das Referieren auf jamaikanische und englische Soundsystemmusik, Acid, Techno, HipHop, Jazz, Afrofuturismus, DiY-Kultur, Funk, Soul, Dancehall gleichermaßen, die Auseinandersetzung mit den großen Medien sowie das multikulturelle Party-Setting vom Warehouse bis zum Mega-Rave quillt aus fast jedem Interview.
Pirate Stations, Dubplates, Plattenläden, Kassetten, die Spezifität der Interaktionen von Floor und DJ/MC, Tower Blocks, B-Boy-/Fly-Girls- und Rude-Boys-/Rude-Girls-Kultur, die Diskussion Underground versus Mainstream, das neu gewonnene Selbstbewusstsein von zuvor marginalisierten Gruppen, Labelpolitik und Politik überhaupt schwimmen als naheliegende Themen mit. A Guy Called Gerald, LTJ Bukem, Nookie, Ant Miles, Omni Trio, Deep Blue, Ray Keith, DJ Crystl, Krome & Time, Peshay, Mickey Finn, Aphrodite, Hype, Roni Size, Doc Scott, Krust, Optical und andere ikonische Producer*innen geben dabei Erstaunliches preis. Doc Scott (31 Records) kommt gewohnt erhellend mit sehr selbstreflektierten Aussagen rüber und gibt Props an die neue Generation. Denn oft vergisst man, dass Jungle bzw. Drum and Bass schon drei Jahrzehnte auf dem Buckel hat: „This music has an amazing ability to appeal to young people which is fantastic, so the next generation keeps coming through, and I’m amazed by some of the things I hear today […] Drum and Bass is nearly 30 years old but when people can still reinvent what’s been done or to be inspired bay an old DJ Die tune or something and put a fresh twist on it with modern production techniques, then that’s amazing.” Aus einer weiblichen Perspektive berichten die Akteurinnen der ersten Jungle- und Drum-and-Bass-Stunden wie Storm, DJ Flight, DJ Rap und Dazee.
Terzulli stellt nicht nur Producer*innen, sondern auch DJs und MCs vor, hier z. B. Fabio, MC GQ oder Friction. Die Interviews liefern des Weiteren Einblicke in legendäre Vertriebe wie Southern Records Distribution und Phill Wells‘ Vinyl Distribution. Das Buch wirft Schlaglichter auf Labels über die sonst wenig zu lesen ist: Suburban Base, Deejay Recordings, Production House, Back2Basics, Urban Takeover, Formation usw. Der Verlag Velocity Press um den ehemaligen Knowledge-Chef Colin Steven legt mit „Who Say Reload“ in seiner sehr empfehlenswerten Reihe zu Musikstilen hauptsächlich aus der englischen Clubkultur (siehe „Knowledge 25“, „Junior Tomlin – Flyer & Cover Art“, „State of Bass“, „Join The Future - Bleep Techno and the birth of British Bass Music“ nach. Als nächstes folgt die Wiederauflage eines Rave-Romans aus dem Jahr 1989 mit der Originalmusik von A Guy Called Gerald dazu. Zugegeben ist es mit Vorkenntnissen einfacher, in solche Themen und das Buch „Wo Say Reload“ einzusteigen. Für manche Topics in den Interviews braucht es eine gewisse Erfahrung im Genre, um alle Bezüge einordnen zu können. Die in diesem Artikel zuvor beschriebenen allgemeinen Kontexte schwingen oft mit, werden aber nicht näher erklärt, wie z. B. in Simon Reynolds‘ „Energy Flash“. In der Fachliteratur gab schon zuvor vereinzelte Interviews und Listen mit relevanten Musikstücken, so in Martin James‘ „State of Bass – The Origins of Jungle/Drum & Bass“ und Brian Belle-Fortunes „All Crew Muss Big Up – Journeys Through Jungle Drum & Bass Culture“. Der Ansatz von Terzulli ist insofern frisch und unterhaltend, als dass er ins Hardcore Continuum zuerst anhand bestimmter Platten abtaucht.
Womit „Who Say Reload“ darüber hinaus auftrumpft, sind die noch nie gezeigten Farbfotos von Eddie Otchere. Er war Fotograf u.a. für die Metalheadz Blue Note Sessions, dem Studio 54 der Neunziger, und machte sich mit Bildern von Aaliyah, Wu-Tang Clan und Biggie Smalls einen Namen. Überhaupt korrespondiert die hochwertige Präsentation des Themas mit dem Ziel von Terzulli und Otchere, UK Hardcore, Jungle und Drum and Bass Wertschätzung zu zeigen. Etwas Physisches und Aufwendiges zum Thema greifbar machen zu können, war den beiden wichtig. Sicher auch, weil nahezu alle anderen Publikationen zum Gegenstand als Paperbacks mit nur wenigen Fotos in Schwarzweiß erschienen sind. Während Drum-and-Bass-Produzent Saxxon gerade am ersten NFT (Non-Fungible Token)-Longplayer der Geschichte, also einem digitalen und einmaligen Album schraubt, das unkopierbar, unzerstörbar und mit Echtheitszertifikat versehen sein wird, ist der Autorenwunsch nach „something tangible“ (Terzulli) natürlich rückwärtsgewandt, desgleichen und selbstredend legitim.
Wie viel Idealisierung in der Darstellung von Vergangenheit liegt, das bleibt bei einer Oral History immer offen. Nostalgie im Sinne eines wehmütigen Rückblicks auf ein verlorenes Glück ist aber nicht das vorrangige Ding des Buches, zugleich wenn Bekümmertheit wegen der in der Pandemie geschlossenen Clubs aufkommen mag. Um erneut Doc Scott zu zitieren: „I get why people have a favourite era, but I don’t think you should pit them against each other and compare the 90s to the present day. […] Hearing the music in the environment it was designed to be played in and also having the collective experience when you hear a brand-new tune, or a remix or a VIP or whatever and you hear it with 100 or 300 other people and you all react at the same time. Those moments are what it is all about for me”. “Who Say Reload“ ist als Blaupause lesbar, und selbst wenn man der Publikation einen Hang zum Coffeetable-Buch für ein gewisses Fan-Klientel nicht wegdiskutieren mag, so ist es überdies ein Erklärungsversuch, was durch und in Clubkultur entstehen kann.
Alle Tracks aus dem Buch:
4 Hero – Mr. Kirks Nightmare
Ragga Twins – Spliffhead
Lennie de Ice – We Are I.E
A Guy Called Gerald – 28 Gun Bad Boy
LTJ Bukem – Demon's Theme
Metalheads – Terminator
Nookie – Return of the Nookie EP
Origin Unknown – Valley of the Shadows
Return of Q Project – Champion Sound
Foul Play – Open Your Mind
Boogie Times Tribe – The Dark Stranger
Engineers Without Fears – Spiritual Aura
Omni Trio – Renegade Snares
Deep Blue – The Helicopter Tune
Leviticus – The Burial
M Beat ft. General Levy – Incredible
Renegade – Terrorist
The House Crew – Superhero
DJ Crystal – Let it Roll
Chimeira – A Deeper Life
UK Apachi feat. Shy FX – Original Nuttah
Krome & Time – The License
DRS feat. Kenny Ken – Everyman
Dead Dred – Dred Bass
J Majik – Your Sound
Peshay – Vocal Tune/Piano Tune – P Funk Era
Sound of the Future – The Lighter
Alex Reece – Pulp Fiction
Urban Shakedown – Some Justice 95
T Power vs. MK Ultra – Mutant Jazz
Shimon & Andy C – Quest/Night Flight
DJ Hype – Peace, Love & Unity
Roni Size/Reprazent – Trust Me
Micky Finn & Aphrodite – Bad Ass
Nasty Habits (Doc Scott) – Shadow Boxing
Mampi Swift – The One
DJ Krust – Warhead
Moving Fusion – Turbulence
Ed Rush, Optical & Fierce – Alien Girl
Bad Company – The Nine
Der Veröffentlichungszeitpunkt von „Who Say Reload“ ist dabei bestens. Nicht nur, dass in England Drum and Bass vor Corona teilweise zehntausende Kids in die Hallen und Stadien zog (wie auch ein Foto von Andy C in der Wembley Arena am Anfang des Buches zeigt), sondern auch Jungle ist mit einer Renaissance, massig Wiederveröffentlichungen vergriffener Classics, neuen Remixen für 2021, Vinyl-Releases von ehemals Dubplate-only-Stücken aus den Jahren 1992 bis 1997 und astronomischen Preisen auf Discogs am Start. Erwachsene Menschen stellen sich einen Wecker, um zum Vorverkaufsstart von neuen Jungle-Platten auf Bandcamp eben jene zwei Minuten nicht zu verpassen, in denen die Scheibe käuflich zu erwerben ist. Dies für 25 Euro bis 40 Euro pro 12“ inklusive Versand, exklusive etwaiger Zolleinfuhrkosten bei Lieferzeiten von drei bis zehn Monaten. Testpressungen werden bei Ebay zeitweilig zum Preis von Kunstwerken direkt vom Produzenten gehandelt oder Labels bieten ab 50 Pfund-Gebot dem/der Höchstbietenden an.
Klar ist das auch Überlebensstrategie von Labels und Künstler*innen, die pro Release an die 20 Prozent abdrücken müssen an Bandcamp, Steuern und Co. Zugleich ist der trubelige Jungle-Markt ein Indikator für einen Hype (einen kleinen, gesehen im Verhältnis zu Zahlen anderer Musikstile bei Spotify) im Mikrokosmos Breakbeat und Bassmusik. Er lässt sich aber auch in Genres wie Techno deutlich anhand von immer mehr Breakbeat-Rave-Jungle-Stücken oder am Einsatz entsprechender Sounds im 4Beat-Kontext nachhören. Junge Producer*innen wie Tim Reaper (UK) und Coco Bryce (Niederlande) sind schnell mit ihrem modern-retro Ansatz zu Szenestars geworden. Fast monatlich entstehen neue Jungle-Hybride in unterschiedlichsten Tempi. Aus Galerien und Ausstellungen flirren Amens, Apache- und Helicopter-Breaks zuhauf. „Who Say Reload“ belegt zurzeit Platz 3 der Amazon-Musikbücherrangliste. Das Buch ist nicht eine Dokumentation des unaufhörlichen Verschwindens der Welt, der es gewidmet ist. Sondern eine Referenz auf das Mögliche in der per Definition relativ offenen Sphäre bassbetonter Breakbeat-Musik. Und die tritt aktuell immer mehr ins Bewusstsein des allgemeinen Musik- und Kultur-Habitats.