Unser Klima jenseits des Tipping-PointsBuchrezension: The Uninhabitable Earth von David Wallace-Wells
14.3.2019 • Kultur – Text: Jan-Peter WulfWie lebt es sich in einer Welt, die zwei, vier, sechs, acht Grad wärmer ist als heute? David Wallace-Wells schreibt schonungslos, in welche Zukunft die Menschheit hinein steuert. Dass wir in einen Abgrund stürzen, steht für ihn außer Frage. Wie tief indes der Fall sein wird, das können wir selbst bestimmen. Noch.
Kaskaden, immer wieder Kaskaden: David Wallace-Wells bedient sich ihrer sein ganzes Buch hindurch. Eine Katastrophe löst die nächste aus, verstärkt sie, führt zu neuen Interdependenzen, es geht immer schneller und mit immer mehr Masse den sprichwörtlichen Bach runter. „The Uninhabitable Earth“ fußt auf dem vielbeachteten gleichnamigen Essay des Journalisten, das 2017 im New York Magazine erschien und unter dem Titel Der Planet schlägt zurück ins Deutsche übersetzt wurde.
Die Lektüre ist brutal, von Anfang an. Es wird schlimmer, als wir denken, mahnt Wallace-Wells eingehend. Wer noch glaubt, der Klimawandel sei ein bisschen Anstieg des Meeresspiegels, sprich ein bisschen weiter vom Wasser wegtreten bitte, der irrt gewaltig. Dann geht der Ritt die Kaskaden hinab los: Hitze und Feuer, Wasser und Eis, Luft, Staub, Erdreich – entlang der Elemente beschreibt der Autor, was auf uns zukommt. Wie Menschen binnen kürzester Zeit dem Hitzetod erliegen werden, wenn sie in bestimmten Gegenden der Welt nur ins Freie zu treten wagen. Wie Großfeuer (derer Kalifornien, Australien und andere Weltecken sie zurzeit in nie gekanntem Ausmaß erleben) nicht nur Wald und Busch verbrennen, sondern dadurch noch mehr CO2 freisetzen. Was noch mehr Hitze produziert, was noch mehr Feuer verursacht, was noch mehr CO2 freisetzt, was noch mehr Hitze produziert und so weiter. Wie jeder, aber auch jeder Strand der Welt bald für immer verschwunden sein wird, wie Venedig und Venice Beach absaufen und auch das Inland – zum Beispiel im Perlflussdelta um Hongkong – dauerhaft überschwemmt sein wird. Wie der erstmals seit Menschengedenken tauende Permafrostboden, der zurzeit fleißig Methan sammelt, zur akzelerierenden Methan-Schleuder wird, das 25 Mal schädlicher als CO2 ist. Wie schmelzendes Eis neben steigendem Wasserspiegel auch sinkende Weißfläche der Erde mit sich bringt, die für Absorption der Strahlung, ergo Verhinderung der Erwärmung sorgt, sodass es noch schneller noch wärmer wird. Grönland, ausgerechnet, hat schon jetzt ein Problem mit grassierenden Bränden – womit man dann vom Eis zurück beim Feuer ist.
All die negativen Feedbackschleifen und permanenten Abwärtsspiralen, die Wallace-Wells beschreibt, machen einen fast schwindelig. Es kann einem nicht nur angst und bange, sondern regelrecht übel werden. Selten hat ein Buch den Rezensenten derart viszeral gepackt, dabei hat sich ein Tiere essen schon alle Mühe damit gegeben.
Wallace-Wells spricht von einem „Höllen-Jahrhundert“, das uns bevorsteht. Schon bald werden ganze Städte und Regionen nahe des Äquators aufgrund der ständigen, immer größer werdenden Hitze nicht mehr bewohnbar sein. Es wird zu Massensterben und Massenflucht kommen, schreibt der Autor und unterfüttert sein durchweg düsteres Szenario allenthalben mit Zahlen, Daten und Fakten, die wenig Anlass zum Optimismus geben. 2100 dann, so Wallace-Wells, sind große Teile der Erde No-go-Areas für die Menschheit. Jedenfalls dann, wenn der aktuelle Emissions-Kurs so weitergeht wie bisher. Das Zwei-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens schätzt der Autor als „best case scenario“ ein, an das er aber selbst nicht mehr glaubt. Eher werde man, geht es mit dem Ausstoß von CO2 weiter wie bisher, um 2100 beim Doppelten angelangt sein, genauer: bei 4,3 Grad mehr als heute.
Wir emittieren munter weiter
Und aktuell sinkt der Ausstoß nicht, sondern wächst. Immer weiter. Ob im privaten/persönlichen Bereich mit global immer mehr Flugreisen, immer mehr Fleischverbrauch, immer mehr Kraftfahrzeugen und immer mehr Konsum, oder im industriellen, wo allein die Zementproduktion so viel CO2 verursacht, dass es, wäre Zement ein Land, gemessen am Ausstoß das drittgrößte der Welt wäre. Milch ist ein weiteres Beispiel, das zeigt, wie der Fortschritt der Menschheit auf Kosten des Klimas geht: Wenn der Milchdurst der neuen Mittelklasse Chinas, einem bislang wenig Milch konsumierenden (und damit Milchvieh züchtenden oder Ware importierenden) Land wie prognostiziert bis 2050 um den Faktor drei zunimmt, dann bedeutet das allein in diesem Bereich 35 Prozent mehr CO2. Setzt der neue brasilianische Präsident Bolsonaro seine Pläne, wieder mehr Regenwald zur Abholzung freizugeben, in die Tat um, so wird das allein in seiner Amtszeit rund 13 Gigatonnen CO2 mehr auf die Waage legen. China emittiert derzeit per annum rund 11, die USA 5 Gigatonnen. Die gefühlt so immateriellen Bitcoins produzieren derzeit 20 Megatonnen CO2 pro Jahr, was einer Million Transatlantik-Flüge entspricht.
Der fossile Kapitalismus, der Fortschritt durch Ausbeutung und Sublimierung der Millionen von Jahren gespeicherten Energieressourcen, hat uns dahin gebracht, wo wir jetzt stehen. Und im Staatskapitalismus sieht es indes nicht besser aus. Welches System auch immer: Wir hinterlassen unseren Nachfahren eine Wüste. Dass sendungsbewusste Politiker von der schulstreikenden Generation Z nun fordern, die Klimapolitik den erwachsenen Profis zu überlassen, ist nicht nur chauvinistisch, sondern zeugt auch von extremer Kurzsichtigkeit. Doch derer können wir uns wohl alle nicht erwehren, wenn wir uns einerseits über einen Tweet echauffieren und uns dann vor dem Abflug noch eine Poké-Bowl mit aus Asien importiertem Fisch im praktischen Plastikgebinde holen, bevor es zum Bikram-Yoga-Retreat nach Formentera oder gleich nach Ko Samui geht. Mindfulness geht meistens doch nur so weit, wie die eigene körperliche Wahrnehmung reicht.
Es wird heiß
Doch diese körperliche Wahrnehmung wird sich ändern. Es wird heiß, kalt, nass, trocken, unangenehm und gefährlich. Befinden wir (der globale Westen) uns derzeit ziemlich weit oben auf der Maslow-Pyramide, heißt es schon bald: Zurück auf die unterste Stufe. Denn die klimatische Gegenwart, so betont Wallace-Wells, wird durch das menschliche Verhalten in der Vergangenheit geprägt. Meteorologische Katastrophen, wie wir sie aktuell erleben, sind folglich – zum Teil – Ergebnis des Handelns oder Nichthandelns schon vor Jahren und Jahrzehnten. Seit wir alle (bis auf einige) wissen, dass es den Klimawandel gibt, dass er im Zeitalter des Anthropozäns von Menschen gemacht ist, hat die Menschheit mehr statt weniger CO2 emittiert. Die zukünftige Gegenwart ist ergo die heutige auf Steroiden, was bedeutet, dass wir uns vom Begriff Katastrophe verabschieden müssen: Sie ist vielmehr das neue Wetter, weil sie Alltag sein wird, so Wallace-Wells. Nahezu jeder Tag wird schlimm sein. Das Klima zieht in den Krieg mit uns, und wir bewaffnen es Tag für Tag weiter. Beispiel: Prähistorische Krankheitserreger, die im scheinbar ewigen Eis festgefroren sind, drehen frei. Dengue-Fieber in Kopenhagen? Nur eine Frage der Zeit. Schon jetzt werden Stiche von tropischen Insekten der Amazonasregion erstmalig in den Metropolen Brasiliens notiert, wo sie bislang noch nie aufgetreten sind. Dass manche Forscher davon ausgehen, dass es im 22. Jahrhundert wenige bis gar keine Insekten mehr geben wird, ist ein irrer Trost.
Die Zeit rennt uns davon
Klimawandel ist ein „Hyperobjekt“, erklärt Wallace-Wells. Den Begriff hat der US-Philosoph Timothy Morton geprägt. Es ist, verkürzt, ein Objekt, das so komplex ist, derartig große räumliche und zeitliche Dimensionen hat, dass man es weder vollumfänglich verstehen noch beschreiben kann. Was Wallace-Wells' Versuch, das Konstrukt und seine Konsequenzen zu Papier zu bringen, freilich schwierig macht. Ob all das, was er beschreibt, in dieser oder anderer Form passieren wird, stärker oder schwächer ausfallen wird, hinterfragt er darum ständig selbst. Es ist letztlich aber auch egal. Denn selbst, wenn es die Menschheit bald schafft, einen gangbaren Weg einzuschlagen, um die Welt komplett zu dekarbonisieren – unter anderem durch eine schleunigst einzuführende CO2-Steuer – steigen die Temperaturen und ändern sich mit ihnen die Lebensbedingungen dramatisch. Die Zeit rennt uns gerade hart davon: 2000 noch hätte eine fortwährende jährliche Reduktion von nur drei Prozent gereicht, um wenigstens die der Zwei-Grad-Latte nicht zu reißen. Jetzt braucht es schon zehn Prozent, und in zehn Jahren: 30 Prozent. Wohlgemerkt: jährlich sinkend. Mit natürlich entsprechend steigenden immensen Kosten, die, je länger wir warten, den gesamten Wohlstand der Welt auffressen werden. Wenn es so etwas dann überhaupt noch gibt. Wieder so eine Kaskade.
Es fehlt das Narrativ
„A completely Mad Max world is not around the bends“, droppt der Autor an einer Stelle. Und vermerkt dann auch, sehr plausibel, dass es in einer Klimawandel-Welt kein popkulturelles Narrativ geben wird, das sich mit dem Klimawandel beschäftigt. Er wird sich nicht mehr für Filme oder Games eignen. Was permanent um einen herum ist, wird man sich nicht mehr auf den Bildschirm holen wollen. Und bei sechs Grad mehr als heute wird niemand mehr nach Augmented-Reality-Spielen rufen. Im Grunde ist das schon jetzt so. Als in den frühen 1980er-Jahren ein atomarer Krieg drohte, da gab es einen Film wie The Day After, der nicht nur ganz Amerika in die Fernsehsessel quetschte, und hierzulande Bücher wie Die letzten Kinder von Schewenborn, die zum Pflichtprogramm in den Schulen gehörten – allgemein bekannte Narrationen. Heute? Ist die Bedrohung gegenüber dem Atomkrieg um ein Vielfaches größer, so Wallace-Wells. Doch abseits von ein paar Netflix-Dokus und Al Gores unbequemer Wahrheit gibt es wenig. Den Klima-GAU überhaupt einmal kollektiv zu denken, davon sind wir weit entfernt – abgesehen von ersten Initiativen in der jüngsten Generation. Welcher wir dann auch noch das Schulschwänzen vorwerfen, wenn sie ihren Frust und ihre Angst kundtut.
‘Thinking like a planet’ is so alien to the perspectives of modern life – so far from thinking like a neoliberal subject in a ruthless competitive system – that the phrase sounds at first lifted from kindergarten.
Doch genau dieses global Denken braucht es, so Wallace-Wells. Mehr sogar noch: ein Denken, das über den Planeten hinausgeht. Denn der wird, egal wie schlimm wir ihn vergiften, uns schon überleben. Wie eine Menschheit zu denken, deren Schicksal jeder einzelne teilt, muss das Ziel sein. Mag der Autor über hunderte von Seiten wenig Mutmachendes sagen können, so wenigstens das: Wir haben das Problem selbst verursacht, wir müssen es nun auch selbst lösen. Wer sonst.