Überleben und überleben lassenEin Bericht vom Leipziger Festival Seanaps
27.9.2023 • Kultur – Text & Fotos: Ji-Hun KimDas Leipziger Festival Seanaps sucht aktuelle Schnittstellen zwischen experimenteller Musik, Kunst und Kultur. Das Filter war vor Ort und berichtet von rasanter Gentrifizierung, spannenden Arbeiten und der ständigen Suche nach Räumen für unabhängige Kunst.
Ob Leipzig das neue Berlin ist, ist mittlerweile eine so alte wie ranzige Diskussion. Medien und Leser:innen erfreuen sich aber an solchen Diskursen. Sie sind binär, verkürzt und polemisch. Neulich konnte man in einer überregionalen Zeitung lesen, ob das Brandenburger Städtchen Kirchmöser zum neuen Berlin avancieren könne, weil dort diesen Sommer eine sehenswerte und gute Kunstausstellung in einer ehemaligen Pulverfabrik stattfand. Hier sollen langfristig Ateliers für Berliner Künstler:innen entstehen, weil es in der Hauptstadt keinen Platz für Kunst mehr gibt. So eine Headline bringt Klicks und Aufmerksamkeit. Aber wirklich ernst gemeint ist das natürlich nicht. Dennoch gibt es Parallelen in der Entwicklung von Leipzig und Berlin. Kunst, Kultur und Musik waren und sind Antreiber städtischer Blütezeiten. Ob sie Ursache oder Symptom für die Gentrifizierung sind, ist eine vertrackte Diskussion. Der Leipziger Stadtteil Plagwitz steht seit Jahren im Fokus dieser Debatten. Fährt man mit der Tram von der Innenstadt in die Karl-Heine-Straße rein, fallen einem gleich die teuren Eigentumswohnungen auf. Schick und edel, für die Allermeisten unerreichbar. Weiter unten am Karl-Heine-Kanal wohnt es sich ebenfalls pittoresk und mondän. Plagwitz, das sein linkes antifaschistisches Herz offen trägt und präsentiert, ist wie viele gentrifizierte Areale eine Insel und auf der Suche nach Identität. In Leipzig wird gerne laut und deutlich protestiert, gerade gegen die Kommerzialisierung der Stadt. Am nächsten Tag wird mir ein älterer Mann in einem Bäckerei-Café erklären, dass es eine Kernkompetenz der Sachsen sei, revolutionär zu denken und zu handeln. Lassen wir das mal so stehen.
Das Seanaps-Festival für experimentelle Musik und Kunst fand dieses Jahr zum siebten Mal statt. Es verteilt sich über verschiedene Locations in Plagwitz. Im Figurentheater Westflügel finden Konzerte und Performances statt. Im Westwerk, einem ehemaligen Armaturenwerk, befindet sich ein Labelmarkt und es gibt sogenannte Interventionen. Ab 2007 als Kunstquartier neu formuliert, ist hier die Friktion zwischen Kunst und Kommerz besonders gut zu spüren. Vorne befindet sich eine Art Markthalle mit einem Konsum, also Supermarkt, der maximal namentlich mit der Mangelwirtschaft der ehemaligen DDR kokettiert – das hier ist einer der schicksten Lebensmittelläden überhaupt. In der Halle gibt es authentisches Streetfood aus Indien, Georgien und Vietnam. Hier hat die Künstlerin Yun-Chu Liang ihre Installation „IN-Between“ aufgebaut. In dieser dialogischen Arbeit geht es um Wahrnehmungserfahrungen im Alltag. Sie analysiert Städtisches, Menschliches und die Umwelt. Es soll Bewusstsein über die täglichen Prozesse im Hintergrund geschaffen werden. Weiter hinten in einem oberen Stockwerk versteckt sich der Labelmarkt im Temporarium, ein liebevoller, improvisierter Laden zwischen zahlreichen Ateliers mit kleiner Bar. Kleinstlabels wie Aquarium, Prepaid Records und Shell Tapes & Recordings zeigen ihre Releases mit Fokus auf Tapes. Ich verweile nicht lange hier, werde dennoch nostalgisch und sehnsüchtig. Ich erinnere mich an Berliner Zeiten, wo so etwas auch noch regelmäßig passierte. Leidenschaftliche Kunst im Kleinen für leidenschaftliche Szenen. Das Westwerk erinnert entfernt an das frühere Tacheles, obwohl es vor 25 Jahren schon eher unfreundlich und seltsam gewesen ist. Das hier fühlt sich offenherzig und vital an. Kürzlich hat im Tacheles das kommerzielle Fotohaus Fotografiska mit großem Marketingbudget eröffnet und will mit Plakaten in der ganzen Stadt Mitte plötzlich wieder cool machen – wie ironisch. Luxus-Suites von Herzog & de Meuron stehen hier nun. Kunst und Rave passieren hier schon lange nicht mehr. Einzig der erbeutete Name „Am Tacheles“ erinnert an vergessene Zeiten als Kunsthaus. Wie lange werden im Westwerk noch Künstler:innen bezahlbaren Platz für ihre Arbeiten haben? Naive Hoffnung und Wunschvorstellung auf der einen und realistische Zukunftseinordnung auf der anderen Seite offenbaren unüberbrückbare Klippen.
Die Kunstausstellung des Seanaps findet im Techne Sphere Leipzig statt. Ein Industriegebiet, das Stück für Stück von Kunst und Kultur erschlossen wird. Zentraler Blickfang ist die Oscar Niemeyer Sphere, eine vom brasilianischen Star-Architekten 2011 entworfene Kugel, die 2020 eröffnet wurde und heute das gehobene Restaurant Céu Dining beherbergt. Vier Arbeiten gibt es zu erleben. Miki Yui bespielt mit ihrer Klangarbeit „Plant Music“ ein verwaistes Bahngleis, das vom Grün der Natur zurückerobert wird. Die Installation „Decay 2022 - 22424“ von Hauptmeier|Recker setzt sich mit der Halbwertzeit von Atommüll auseinander. Die Arbeit hat eine Laufzeit von 20.402 Jahren. Da wird das menschliche Leben zum Wimpernschlag. Anna Schimkat bespielt eine große Werkhalle mit ihrer Arbeit „A Timeless Movement in Socks“. Hier setzt sie sich mit der sächsischen Migration in die USA im 20. Jahrhundert auseinander. Sie behandelt zugleich den Wegfall wichtiger Textilindustrien in Sachsen nach der Wende. Für den Film „Burial of this Order“ der koreanisch-dänischen Künstlerin Jane Jin Kaisen wurde ein Kubus inmitten einer im Betrieb befindlichen Fabrik errichtet. Der eindringliche und imposante Film handelt von einer konfuzianistischen Beerdigung auf der Insel Jeju, die in einem wutvollen Protest ausartet. Es ist eine rebellische Momentaufnahme der koreanischen Gesellschaft, die unter dem Druck des leistungsorientierten Konformismus’ Südkoreas zusammenzubrechen droht. Traditionen, strenge Hierarchien und Kapitalismus diktieren den Kanon. Kulturelle Vielfalt, Individualismus, Diversität und Kunst können nur durch lautstarke Subversion, und durch den bewussten Bruch mit alten Ritualen Luft zum Atmen erhalten. Eine letztlich sehr universelle Geschichte.
Abends im Westflügel treffe ich zufällig den Leipziger Künstler und Musiker Lorenz Lindner. Auch er berichtet mir von der rasend schnellen Gentrifizierung von Plagwitz, die hier viele überfordert. Es erscheint mir wie eine Mischung aus Kopfschütteln, Schulterzucken und eingefrorenem Reh im Fernlicht. Irgendwie ist ja auch schön, aber für wie lange? Am nächsten Tag wird er mit Julia Santoli die Performance „Trans Atlantic Objects Speak“ im Westwerk aufführen. Die Konzerte am Samstagabend sind ausverkauft. Vor der Tür warten Leute mit Tickets und können nicht reingelassen werden, was sie nicht erfreut. Wilted Woman spielt ein intensives Liveset, das eklektisch mit analogen Samples arbeitet und in unorthodoxe Strukturen formt. Es ist dramatisch und abstrakt zugleich. 808-Beat-Fragmente knallen auf Field Recordings, noisige Streicher und funky E-Bässe. Permanente Konstruktion und Destruktion, dabei konsistent sein und dennoch Überraschungsmomente schaffend. Der schöne alte Saal im Figurentheater bietet die perfekte Bühne für diese Performance.
Das Seanaps ist ein dezentes und intimes Festival. Es ist kein leuchtendes UFO, das für vier Tage Stadt oder Feld belagert. Es ist integer und vielleicht zu unaufdringlich, wenn man nicht aus der Stadt ist und eine Weile und Umwege braucht, um die jeweiligen Locations zu finden. Das Motto „Composing Futures“ adressiert aber all die Fragen, die sich Kunst, Kultur und Gesellschaft zu stellen haben. Wem gehört die Stadt? Wie können wir weiter machen? Welche Räume haben Musik und Kunst in der Zukunft? Wann verstehen wir, dass junge und unabhängige Szenen integral für eine gesunde Stadtkultur sind und nicht nur Feigenblätter, die man wie fad gewordene Kaugummis ausspucken kann. Muss es in Leipzig wie in Berlin werden, wo neue Clubs nur noch außerhalb des Rings eröffnen oder Kunstateliers an der Havel aufmachen müssen? Und dann wäre da nicht zuletzt die politische Zukunft. Das Seanaps ist wie viele andere Veranstaltungen in diesem Segment ohne öffentliche Förderung nicht denkbar. Nicht nur in Sachsen liegt die AfD derzeit bei über 30 Prozent. Nächstes Jahr stehen Landtagswahlen an und es steht europaweit ein rechtsextremes Zeitalter in düsteren Startlöchern. In Italien sehen wir bereits, wie eine postfaschistische Regierung mit Kultur und Kunst umgeht, die für Interkulturalität, Weltoffenheit und Diversität steht: Sie wird abgeschafft. Der Wind wird perspektivisch frostig. Es mag romantisch klingen, wenn man von Inseln wie Berlin oder Leipzig spricht. Aber Inseln unterliegen immer der Gefahr, von einer Flut überschwemmt zu werden, sei diese Flut der Kapitalismus oder rechte Ideologien. Es geht weniger um die Revolution, es geht ums Überleben.