Pageturner – September 2023: Wissenschaft global, KI-Krux, alternativlose SozialforschungLiteratur von Martin Rees, Christopher Summerfield und Alexandra Schauer
1.9.2023 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteMartin Rees widmet sich in „If Science is to Save Us“ der Frage, welches Umdenken es tatsächlich in der Akademia braucht, um dieses Versprechen einzulösen: Wo also beginnen und wo weitermachen bei all den globalen und sozialen Menschheitsproblemen? Christopher Summerfield untersucht derweil in „Natural General Intelligence“ die tatsächliche Relevanz der allseits gehypten Künstlichen Intelligenz – und plädiert für eine reflektierte Kneifzange der Erfahrungswerte. Alexandra Schauer stellt in „Mensch ohne Welt“ das allseits bekannte Gefühl der Alternativlosigkeit im Kapitalismus auf den Prüfstand. Gibt es empirische Belege für unsere systemische Gemengelage? Hannah Arendt grüßt. Der Sommer ist vorbei, Pageturner Frank Eckert verlegt sich aufs Deep Reading.
Martin Rees – If Science is to Save Us (Polity Press, 2022)
Die wirklich spannende Frage ist entgegen populärer Meinungsbilder ja weniger das Ob und Warum, sondern das Wie. Wie genau soll die Wissenschaft uns retten? Wo doch zu oft nicht hinterfragtes Expertentum und Technokratie Misstrauen hervorruft. Wenn Wissenschaft zu oft ohne demokratische Kontrolle, ohne Orientierung an den Interessen und ethischen Grundsätzen der Mehrzahl der Menschen praktiziert wird. Zudem noch in Zeiten, in denen die Probleme, die eventuell gelöst werden sollen, so immens und unüberwindbar scheinen und die Entwicklungen den individuell erfassbaren und intuitiv menschlich verstehbaren Rahmen weit überschritten haben – was auf so ungefähr jeden der globalen Großtrends mindestens teilweise zutrifft: vom Klimawandel, Bodenerosion und Artensterben zu Evolution, Kernspaltung und Künstlicher Intelligenz. Wenn Politik nur kurzfristig reagiert statt zu agieren. Wo also beginnen und wo weitermachen bei all den globalen und sozialen Menschheitsproblemen?
Für den (very) britischen königlichen Astronomen Martin Rees liegt die Krise nicht unbedingt in den Ideen selbst, die die Wissenschaften prägen. Denn es gibt sie durchaus noch, die guten Ideen. Vermutlich sogar mehr denn je, denn Wissenschaft ist heute globaler und kollaborativer als je zuvor. Wo es allerdings hakt, ist in der gesellschaftlichen Vermittlung, in den Erzählungen von Wissenschaft, die wir alle teilen. Etwa dem naheliegenden und psychosozial absolut verständlichen und meist sinnvollen Fokus auf Unmittelbares, auf akute Bedrohungen und direkte Ärgernisse, auf den eigenen Vorgarten.
Das funktioniert bei unmittelbaren Problemen dann auch leidlich gut, wie etwa während der Covid-Pandemie, wo trotz extremer Unsicherheit, Unwissenheit und der immer schwebenden, partiell immer unbeantworteten Legitimationsfrage eine verhältnismäßig rapide und international (m. E.) koordinierte Antwort möglich war. Bei langfristigen Problemen von universellem terrestrischen Maßstab scheitert das Zusammenwirken von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft dagegen regelmäßig und systematisch im Klein-Klein der lokalen kurzfristigen Interessenskonflikte. Wie dem zu begegnen ist? Nun, Rees konzentriert sich auf die Facette des ganzen großen Bilds, die er am besten kennt: die Naturwissenschaften. Und dort sind die möglichen Maßnahmen ziemlich basal (aber leider nicht banal einfach). Es muss von potentiellen Nutzen wie von den Risiken erzählt werden, von gesellschaftlicher Moral und individueller ethischer Intuition. Ansetzen könnte man also schlicht schon bei der Ausbildung. Wissenschaft als Karriereoption ist noch immer stark tendenziös, weil sie auf Ausnahmeerzählungen, auf der Annahme einzelner Geniestreiche beharrt – was absolut jeder aktuellen wissenschaftlichen Praxis massiv widerspricht. Deshalb sind scheinbare „Exzellenz“-Nachweise wie der Nobelpreis oder ein Abschluss innerhalb des Systems der angloamerikanischen Eliteuniversitäten kontraproduktiv für ein realistisches und positives Bild der Wissenschaften als Ganzes – und pures Gift für ihre gesellschaftliche Vermittlung.
Wissenschaft ist Arbeit wie vieles andere auch. Und diese Arbeit muss – wie andere Arbeit auch – ethisch bewusst an Gesellschaft (und Markt) rückgekoppelt, aber nicht exklusiv von ihnen kontrolliert sein. Eine sinnvolle Portion Elfenbeinturm gehört ebenso dazu wie ein Pragmatismus, der an Lösungen glaubt und nicht an Geniestreiche. Klingt alles total machbar.
Christopher Summerfield – Natural General Intelligence (Oxford University Press, 2023)
Durchaus eine clevere Strategie, die uns die KI-Doomer weismachen wollen: Dass die große Singularität (also nichts weniger als die säkulare Apokalypse) kurz bevorsteht, und die Maschinen in Form einer emergenten und sich selbst immer weiter optimierenden überhuman schlauen und effektiven Künstlichen Intelligenz die Leitung über alles übernehmen. So manches Geschäftsmodell der KI-Startup-Branche profitiert davon immens, einfach weil diese Art von Angstmache von der eigentlichen Agenda ablenkt: was die Menschen und die Firmen mit ihrer KI (die ja nur eine mehr oder minder „enge“ KI ist, also ein Expertensystem für eine spezifische und kleine Anzahl von genau definierten Aufgaben) erzielen wollen. Vom Geldverdienen mal abgesehen gibt es ja einige Monopol-, Einfluss- und machtpolitische Ideologien, die hier verfolgt werden könnten und es definitiv auch werden.
Das Buch des Oxforder Experimentalpsychologen Christopher Summerfield liefert eine Vielzahl plausibler Gründe dafür, warum ein Skynet-Szenario (KI-Hyperintelligenz will Menschheit, die sie schuf, vernichten) auf absehbare Zeit extrem unwahrscheinlich bleibt. Das Buch geht aber darüber weit hinaus. Summerfield argumentiert nämlich, dass schon das Konzept Intelligenz für sich genommen nicht einmal ansatzweise verstanden worden ist. Und dass eine Skalierung und Proliferation der vorhandenen Konzepte durch immer weiter erhöhte Hardware- und Software-Leistung nur zu effektiveren Teillösungen führen wird, zu erstaunlich leistungsfähigen Chatbots und Suchmaschinen, nicht aber aus sich selbst „bootstrappend“ emergent zu einer autonomen „General Intelligence“. Es ist übrigens ebensowenig klar, ob eine Intelligenz, die nach den Vorgängen im menschlichen Gehirn modelliert ist, das erreichen könnte.
Die besten Tricks – wie etwa die Rückpropagation und das selbstverstärkende Lernen – hat sich die KI sowieso schon von der Biologie abgeschaut. Es ist zudem keineswegs sicher, ob wir als Menschen eine KI überhaupt erkennen würden, und umgekehrt sie uns, wo wir doch schon bei der viel näherliegenden tierischen Intelligenz gegen jede Evidenz große Schwierigkeiten haben diese (an)zuerkennen. Wenn also schon nicht im Ansatz verstanden ist, was eine allgemeine natürliche oder künstliche Intelligenz überhaupt ist, müssen wir uns fragen, was wir eigentlich von und mit der KI wollen. Der jetzige Zustand, in dem KI oft nur zur Abwertung und Ersetzung teurer menschlicher Arbeit dient hat, jedenfalls mit den hehren Zielen einer generellen KI wenig zu tun. Die pompösen Ankündigungen und Drohungen der einschlägigen Spezialist:innen sind mit Vorsicht zu genießen.
Die nüchterne, sorgfältig abwägende und technisch detailverständliche wie konzeptuell tiefgehende Einführung Summerfields gibt viele praktische Hinweise und einen Werkzeugkasten, um sich eine informierte eigene Meinung bilden und mit den Versprechen und Drohungen der KI besser umgehen zu können. Das trockenhumorige Buchcover der britischen Originalausgabe wurde übrigens mit der Bild-KI DALL-E erzeugt: welch feine Ironie.
Alexandra Schauer – Mensch ohne Welt (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 2023)
Das Gefühl der Alternativlosigkeit, des subjektiven Fehlens von Optionen und Auswegen kulminiert in einer Melancholie des Spätkapitalismus. Das konstatieren nun auch schon seit mehr als 50 Jahren die unterschiedlichsten akademischen sozialwissenschaftlichen Schulen, philosophischen Nicht-Schulen und politischen Theoretiker (meist ist das generische Maskulinum dabei korrekt) – von der kritischen Theorie bis Mark Fisher und Byung-Chul Han. Aber wie genau kam es eigentlich dazu? Wo sind die empirischen Nachweise für die gefühlten Realitäten des Kapitalismus, beziehungsweise des kapitalistischen Realismus? Eine Lücke, die meist von der Soziologie geschlossen wird. Eine besonders große Lücke stopft das epische und allein schon physisch ziemlich brikettartige „Mensch ohne Welt“, die Doktorarbeit der Soziologin Alexandra Schauer am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Diese stellt sich nicht unmittelbar in die theoriebildende Traditionslinie ihres Instituts. Eher in eine umfassendere, die neben Sozialkritik von Phänomenologie und politischer Theorie informiert ist, exemplarisch in Nachfolge Hannah Arendts. Wobei die Methodik angesichts der unfassbaren Fülle an Material sekundär wird.
Eigentlich wäre jedes der großen Kapitel dieses beinahe achthundertseitigen Werks eine Promotion für sich wert. So zeigt Schauer am Beispiel der Zeitmessung, wie sich die vormoderne Vorstellung einer zyklischen Zeit in die lineare Metrik der Industrialisierung umorientierte und diese wiederum von der digitalen Gleichzeitigkeit in Frage gestellt wurde. Die daraus resultierende Flexibilisierung und Angleichung aller Zeitregime in der Spätmoderne ergibt dann wiederum eines der Hauptsymptome des zeitgenössischen Unbehagens, dem Gefühl eines ziellosen wie hilflosen Driftens auf den Wellenkämmen der See des Ungewissen. Denn ein planloses Dahintreiben stellt das Gegenteil von Autonomie dar, dieses großen Versprechens der Moderne. Die Logik der Timeline in sozialen Medien, die nicht mehr verstehbare falsche Präzision, die digitale Nachkommastellen suggerieren, und viele kleine Beispiele mehr führen in der Summe zu dem Druck und dem Gefühl des Getriebenseins, das so viele Aspekte unserer Zeit dominiert.
Weitere Aspekte, die ähnlich skrupulös und detailliert mit langem Atem betrachtet werden, sind Öffentlichkeit, Polis und Urbanität. Was in aller Länge tatsächlich erstaunlich kurzweilig wirkt und für eine Doktorarbeit ebenso lesbar ist. Letztlich fügen sich die Myriaden kleiner und großer Einzelfakten in ein Wimmelbild des spätmodernen Weltverlusts mit ihren nur zu realen Phantomschmerzen von Nostalgie bis Solastalgie in individuell wahrgenommener Handlungsunfähigkeit. Was letztere angeht, schließt Schauer allerdings (auch dies eher uncharakteristisch für die Frankfurter Schule) beinahe optimistisch, indem sie den Blick auf das Mögliche lenkt.