Pageturner – Oktober 2023: Autofiktionales Flirren, „Sex And The City“-Revival, das New York der 1970erLiteratur von Claire-Louise Bennett, Coco Mellors und Colson Whitehead

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Claire-Louise Bennett übt sich in „Checkout 19“ am Autofiktionalen und findet damit einen rauen Punkt in der britischen Geschichte. Coco Mellors widmet sich in „Cleopatra and Frankenstein“ einem recht ähnlichen Thema und geht literarisch doch einen ganz anderen Weg. Und dann ist da noch der Erfolgsautor Colson Whitehead, der mit „Crook Manifesto“ nun doch das New Yorker Setting von „Harlem Shuffle“ mit seinem neuen Buch „Crook Manifesto“ weiterverfolgen will. So scheint es zumindest. Prekär und weird. Frank Eckert ist unser Pageturner.

Pageturner Oktober 2023 Claire-Louise Bennett – Checkout 19

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Claire-Louise Bennett – Checkout 19 (Vintage, 2022)

Dass wir, also der Pageturner und ich, eine Schwäche haben für ziellos mäanderndes Abschweifen-Erzählen, ist über die Jahre wohl klar geworden. Dass wir uns sehr leicht von belesenen Büchern mit modernistischen Meta-Ebenen über Bücher, das Lesen und eventuell auch das Schreiben beeindrucken lassen, vermutlich ebenfalls. Also klar, dass wir die Bücher von Claire-Louise Bennett mögen, ihr Debüt „Pond“ sogar als einen All-Time-Favourite liebten.

Ihr neueres „Checkout 19“ flirrt autofiktional entlang einer möglichen jüngeren Claire-Louise Bennett – zwischen Lese-, Schreib- und Lebenserfahrungen. Das Setting? Ein paar Jahre vor „Pond“, in einer britisch-klassenbewussten Schul- und Studienzeit, in den Geschichten anderer Geschichtenerzähler:innen. Neben den Klassikern viel neuere Arbeiterkinderliteratur wie Annie Ernaux, deren Schreibweise und Tonfall der Roman reflektiert, ohne dabei deren selbstanalytische, kühle Strenge nachahmen zu wollen. Damit trifft die Autorin nicht zufällig auf eine weitere unserer literaturverliebten Lesefasziniertheiten. Ob das Buch nun gut geschrieben ist oder großartig, kann ich – wissen wir – nicht zu beurteilen, nicht mal meta. Dass es einen rauen wunden Punkt exakt trifft, jedoch sehr wohl. Und dass es unzählige Spuren auslegt, die zu verfolgen wären, etwa zu Ann Quin oder Natalie Ginzburg, ist ebenso wahr. Die Taschenbuch-Ausgabe wurde mit einem der topmodischen Wasserfarbenportrait von Gill Buttons becovert: ein feines semi-ironisches Detail.

Pageturner Oktober 2023 Coco Mellors Cleopatra and Frankenstein

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Coco Mellors – Cleopatra and Frankenstein (4th Estate, 2022)

Ein faszinierendes Junge-Frau-Portrait von Gill Button als Cover. Und dann ist da noch das klare pastellhelle Design. Äußerlich kommt Coco Mellors Debütroman „Cleopatra and Frankenstein“ dem „Checkout 19“ von Claire-Louise Bennett frappierend nahe. Auch geht es um Kunst, Liebe und Leben mit einer jungen Frau im Zentrum der Geschichte. Die Parallelen enden allerdings ziemlich abrupt, wenn es um den Inhalt und die Erzählweise geht. Wo Bennett zwischen modernistischer Fragmentierung und autofiktionalen Metaebenen mäandert, hat Mellors einen doch sehr konventionellen Konversationsroman geschrieben, der sich liest, als wollte die Autorin so etwas wie „Sex and the City“ noch einmal aufwärmen.

Das ist schon zeitgemäß. Etwa mit peripherer Queerness und Polyamorie herum um die ultraklischierte zentrale Beziehung der jungen super attraktiven ehemaligen Kunststudentin Cleo (ohne Geld, aber schlau und mit Ambitionen) mit dem 20 Jahre älteren und im New Yorker Kreativbusiness erfolgreichen Frank (of all names), der genau da agiert, wo Geld, Kunst, Beziehungen und Geschäft konvergieren. Das Ganze dann noch aufgeladen mit ein wenig identitätsliquidem Melodram à la „A Little Life“, kommt dennoch kein zeitanalytischer Gesellschaftsroman à la Sally Rooney dabei herum, noch nicht einmal etwas wie Hanya Yanagihara in weniger quälend. Es fehlt dazu einfach die (Selbst)Reflexion, denn so clever und referenzsatt sind die Dialoge dann leider doch nicht. Wirklich schade, denn einen New Yorker Rooney-Roman oder eine „leichtere“ Yanagihara hätte ich tatsächlich gerne gelesen.

Pageturner Oktober 2023 Colson Whitehead Crook Manifesto

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Colson Whitehead – Crook Manifesto (Fleet, 2023)

Nun hat Colson Whitehead also doch die Fortsetzung zu „Harlem Shuffle“ geschrieben, dem Roman, aus dem vermutlich eine Trilogie werden wird. Eine gute Entscheidung: Das Personal ist uns ja nur langsam näher gekommen, und als wir dann ansatzweise verstanden haben (oder zu haben glaubte), was da eigentlich gerade abgeht, war es auch schon zu Ende. Nun also sind es die Siebziger in New York, und der hartgekochte Thriller in Schwarzweiß wird zum pastellig-psychedelischen Röhrenfarbfernseher eines Gesellschaftsdramas.

Die Figuren kommen aus dem Klischee, und es kennzeichnet Whiteheads erzählerisches Können, dass er die Stereotype gerade so weit beugt, dass sie noch wiedererkennbar sind und Genrekonventionen genügen, aber doch genug Eigenheiten und Freiheiten besitzen, um sie interessant zu machen. Als da wären: der aufrechte Familienpapi, der eigentlich keinen Ärger mit niemand will und nur versucht zu überleben, seinen Laden, sich und die seinen durchzubringen, aber immer tiefer ins Verbrechen gezogen wird und dabei überrascht ist, zu welch drastischen Dingen er fähig ist. Dann ist da noch der eigentlich gutmütige, aber für seine Umgebung zu naive Pechvogel, der sich von einer heiklen Lage in die nächste durch sein Leben hustlet und irgendwann stirbt. In weiteren Rollen: soziopathische, aber exzentrische Berufsverbrecher, struggelnde „anständige“ Bürger:innen, korrupte Beamt:innen und Politiker:innen, ambivalente korrupte Cops und durchgehend miese, gewalttätige, rassistische korrupte Cops.

Es gibt Graswurzelinitiativen und die vermeintlichen und realen Aktivitäten der Black Liberation Army. Es gibt die Musik der Jackson 5 und Blaxploitation-Filme. Alles eine Handvoll Blocks „Across 110th Street“ entlang der Seventh Avenue. Das „Crook Manifesto“ bewegt sich dabei ganz unauffällig vom privaten zum lokalpolitischen zu großen Ganzen, durch die Siebziger, durch die Veränderungen in der Stadt und im Land – durch das, was den armen nichtweißen Stadtbewohner:innen bisher verwehrt war und nun langsam möglich scheint. Aber auch durch dessen Grenzen, das Aufreiben an den etablierten Strukturen der Old-Boys an altem und neuem Filz, und sich langsam andeutend der Verdrängung und Gentrifizierung des kommenden Trump- und Disney-New-York. Vor diesem Hintergrundrauschen spielt sich eine süffige vielgestaltige Story ab, vorwiegend auf Street-Level. Whitehead bleibt nahe bei seinen beschädigten Figuren. Aber auch die etwas schärfere und weniger kühle Charakterisierung der Figuren kann nie darüber hinwegtäuschen, dass diese Serie eigentlich nur eine Hauptdarstellerin hat: die Stadt. Dieses New York, das es schon lange nicht mehr gibt, obwohl es global popkulturell doch so nahe erscheint. Ein Traum von einem grün-braunen Scotchguard-Tweed.

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