Pageturner – November 2024: PerspektivenLiteratur von Han Kang, Emily Itami und Justin Torres
4.11.2024 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteLiteraturnobelpreisträgerin Han Kang schreibt über den Verlust der Sprache. Emily Itami legt mit „Fault Lines“ einen Heimatroman für Heimatlose vor. Und Justin Torres beschäftigt sich in „Blackouts“ mit dem Leben außerhalb der normativen Standards des Begehrens.
Han Kang – Greek Lessons (Penguin, 2024)
Han Kang, yeah! Endlich ein Nobelpreis für Literatur, den ich voll und ganz nachvollziehen kann und mehr als begrüße. Die Koreanerin schreibt seit Anfang der Neunziger, konnte aber erst mit dem internationalen Erfolg von „The Vegetarian“ ihren Job als Lehrerin/Literaturprofessorin fürs Erste suspendieren. Und übersetzt werden ihre Texte auch erst seitdem. Die Übersetzungstätigkeiten sollte der Nobelpreis hoffentlich beschleunigen. Denn noch jedes der bislang weniger als eine Handvoll ins Deutsche oder Englische übersetzten Bücher hat sich als brillante wie stilistisch offene Prosa von lyrischer Qualität erwiesen. Sei es das essayartige wie poetische „The White Book“ oder die zuletzt übersetzte Novelle „Greek Lessons“. Diese entstand vor ihrer Zeit als „Nur noch“-Autorin, atmet Kangs Meisterschaft im Umgang mit Sprache allerdings schon in jeder der knappen Sentenzen.
Im Zentrum steht wie in fast allen Texten ein Trauma, in diesem Fall kein gesamtgesellschaftlich-koreanisches (oder vielleicht ja doch), sondern ein individuelles Trauma einer hochbegabten Schülerin, die ihre Sprache verliert. Die verstummt, weil sich ihr die Wörter zu sehr in den Körper eingeschrieben haben, im Kopf so groß geworden sind, dass sie nicht mehr heraus können. Ein Kurs in Altgriechisch, viele Jahre später, erscheint ihr als Möglichkeit einer erneuten Verbindung mit dem Außen, mit der Welt. Zwischen diesen in dritter Person erzählten Episoden schreibt eine Ich-Erzählerin – wie sich herausstellt eine Griechischlehrerin – über ihren Verlust, ihre Arbeit und Obsessionen, etwa die Quellenforschung und Übersetzung von Borges. Anders als die stille, in sich gekehrte Schülerin ist die Lehrerin eloquent und weltläufig, hat einige Zeit in Europa gelebt und nimmt sich leidenschaftlich der nicht zuletzt sozialen Stille an, die alle Interaktionen in diesem Buch zu durchwirken scheint.
Der Erfolg der beidseitigen Anstrengungen bleibt überschaubar, ist aber für beide nicht vergeblich. Kang erzählt hier also weniger von den Grenzen der Sprache und den Grenzen der Welt als von der Möglichkeit individueller Verständigung und Nähe innerhalb und außerhalb von (gesprochener) Sprache. Wie sie das tut, ich muss mich wiederholen, ist nicht weniger als brillant.
Emily Itami – Fault Lines (Phoenix Books, 2022)
Wie rar und preziös doch unprätentiös: ein Roman über das Leben in der Metropole, über erwachsene Menschen mit Erwachsenenproblemen und jugendlichen Sehnsüchten. Ein Roman über Verantwortung und Freiheit, Familie, Pflichtbewusstsein, kleine und große Fluchten. Dass kein gewählter Weg sich jemals und auf ewig richtig anfühlt, dass es immer wieder Bruchlinien gibt bis zum großen Beben (oder eben nicht). Dass aber auch das Sich-gehen-lassen, Vernunft und Verantwortung für den Moment hinter sich zu lassen nicht unbedingt weiter helfen.
Das formidable Romandebüt der in London lebenden Japanerin Emily Itami erzählt von einer untypisch-typischen japanischen Hausfrau und Mutter, zeigt Schnappschüsse aus einem beinahe unbeschwerten Frühling in Tokio, beschreibt eine erfüllte wie sorgenarme Existenz, in der es trotz allem doch diese Brüche gibt. Lücken, die auch durch eine platonische Affäre, eine Nightlife-Freundschaft, durch ein spontanes Wiederfinden und Neuerleben der großstädtischen Nacht nicht gefüllt werden können. Itami schreibt von diesem Frühling als melancholische Vorahnung eines kommenden Bebens, von regenfeuchten schwülwarmen Straßen im urbanen Neon Rot-Blau-Violett des Dreampunk und Vaporwave. Schreibt von einer realen Stadt, die sich doch so vorgestellt sehnsuchtsvoll erfunden ausmalt. Schreibt von realen, fest im Leben stehenden Menschen, die doch zu fragil und zart für dieses Leben wirken, die driften, zu entschweben scheinen. Für all die urban-kosmopolitischen heimatlosen Stadtkinder da draußen (und ich glaube fest daran, dass es sie noch gibt) ist Itamis wundervolles „Fault Lines“ der essentielle Heimatroman.
Justin Torres – Blackouts (Granta, 2023)
Wie erfreulich, dass Literatur, die im Wesenskern, in allen alten und neuen Bedeutungsschattierungen des Wortes „queer“ ist, dass Literatur, die radikal verspielt daherkommt, in der Form zu experimentieren wagt und keine Scheu hat, modernistisch oder avantgardistisch zu wirken, dass so eine Literatur nicht nur sichtbar und in Nischen erfolgreich, sondern sogar populär sein kann, es in Bestsellerlisten schaffen kann. Ein Statement gegen die Aufmerksamkeitsfragmentierung, gegen die click-ökonomisierte Wahrnehmung, gegen die Filterblaseneinsamkeit.
Der US-Amerikaner Justin Torres erzählt in seinem zweiten Roman „Blackouts“, einem Werk, in dem rund zehn Jahre Arbeit stecken, auf multipel gebrochene und gespiegelte Weise von Leben außerhalb der normativen Standards des Begehrens – und von der Genese und Verschiebung eben dieser Normen. Da ist einmal die zarte Zuneigung eines Pflegers zu einem älteren Mann, welcher in einer seltsam verlassenen, zeitenthobenen und weltentrückten Institution in einer Wüste irgendwo mitten im Nichts im Sterben liegt. Einer, der wiederum eine Verbindung zu realen Figuren der Erforschung der weiblichen und männlichen Homosexualität im 20. Jahrhundert darstellt, die allerdings selbst wieder teilweise biografisch fiktionalisiert sind. Umrahmend und intermittierend kommentiert von einer ebenfalls realen klinischen Studie aus den 1950er-Jahren, deren Text durch teilweise Schwärzung und Löschung eine andere, plötzlich beinahe poetische Geschichte der Homosexualität erzählt. Was dann wiederum mit gefundenen Anekdoten, dokumentarischen und persönlichen Texten und Bildern und autofiktionalen Details des Autors reflektiert wird.
Eine literarische Methode, die stark an W. G. Sebald erinnert, in der Erlebtes, Wiedergegebenes, Wiedererzähltes und Erfundenes auf komplexe Weise verwirbelt werden, um ein nicht triviales, aber doch direkt verständliches Ganzes zu ergeben. Im Unterschied zu Sebald legt Torres sämtliche Quellen offen und gewährt damit Einblicke in seine Arbeitsweise. Die Kunst des feinen Verwebens bei gezieltem Fallenlassen loser Fäden und offener Enden ist ganz spezifisch Torres’ eigene – und zeitgenössische – Kunst.