Pageturner – Mai 2024: Identitätsfalle, Bergfestung, Gedächtnis-FragmenteLiteratur von R. F. Kuang, C Pam Zhang und Viktor Gallandi
6.5.2024 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteIn ihrem neuen Roman „Yellowface“ erzählt R. F. Kuang, was passieren kann, wenn man geistiges Eigentum stiehlt, es veröffentlicht und inmitten des Erfolgs über die eigene Identität stolpert: die woke Gegenwart ist knallhart. Ebenso hart ist das Leben als Köchin in einem von Krisen durchfressenen Europa der nicht fernen Zukunft. C Pam Zhang inszeniert im Roman „Land of Milk and Honey“ diese Situation in einer norditalienischen Bergfestung der Superreichen. Und Viktor Gallandi erzählt in „Kaspar“, wie sich Demenz im Inneren anfühlen kann, wenn der Protagonist abgeschirmt von der Welt seine ohnehin unscharfe Welt nicht mehr scharfstellen kann. Frank Eckerts „Pageturner“ pendelt im Mai zwischen Kafka auf dem Sonnendeck, Cringe-Zynismus und schwermütigen Resten der Erinnerung.
R. F. Kuang – Yellowface (William Morrow, 2023)
Nach einem massiven Erfolg eröffnen sich für Autor:innen doch einige neue Möglichkeitsräume. Rebecca Kuang hat die Freiheiten nach dem über die Fantasy Genre-Nische hinaus erfolgreichen „Babel“ dazu genutzt, um eine feinherbe Satire über den US-amerikanischen Literaturbetrieb und woke Empfindlichkeiten zu schreiben – Ähnlichkeiten mit lebenden Büchern und Internet-Personen sind (ganz bestimmt nicht) zufällig.
Die Story ist geradezu archetypisch: Die Erzählerin, eine leidlich erfolglose Autorin, gelangt an das jüngste, offenbar geniale Manuskript ihrer Bestseller-Freundin. Sie kennen sich aus gemeinsamen Studientagen in Yale und treffen sich alle paar Monate zum Whiskytrinken. Als die erfolgreiche Freundin nach durchzechter Nacht einen freakigen Unfalltod mit halb aufgetauten Teigwaren erleidet, nutzt die Erzählerin die Gunst der Stunde und nimmt das noch geheim gehaltene Manuskript an sich, überarbeitet, beendet und veröffentlicht es als ihr eigenes. Mit immensem Erfolg. Doch dann tappt sie in die Identitätsfalle. Die Freundin war US-Amerikanerin chinesischer Abstammung, das Buch Historical Fiction über chinesische Arbeitsmigranten und Soldaten in den USA. So kommt es nach kleineren Reibungen und minderen Scharmützeln irgendwann zum großen Appropriations-Callout und Plagiatsvorwürfen – trotz oder gerade wegen ihres ambivalenten Namens „Song“, der aber nicht von chinesischen Ahnen stammt sondern von weißen Hippie-Eltern.
Danach werden die Mechanismen der woken Erregungsökonomie gnadenlos ausgespielt, Kuang zeigt sehr genau in aller notwendigen Härte, wer wann wie von der generierten Aufmerksamkeit profitiert. Selbstverleugnung, Cringe-Momente und brutaler Zynismus sind keine Gegensätze, sondern ein Kontinuum, in dem sich die Protagonist:innen jederzeit mehr oder minder sicher bewegen. Das macht „Yellowface“ zu einem dringlichen wie zeitgemäßen Roman. Zu Literatur, wie sie heute gebraucht wird.
C Pam Zhang – Land of Milk and Honey (Riverhead Books, 2023)
Schicksalsgebeutelt, düster, magisch-realistisch und melo-tragisch: So war C Pham Zhangs Debüt „How Much of These Hills is Gold?“, eine schwergewichtige Historical Fiction über chinesische migrantische Arbeiter:innen am schäbigen Ende des Wilden Westens, als sich der kalifornische Goldrausch in einen brutalen Überlebenskampf wandelte. Um Überleben unter sich stetig verschiebenden Umständen geht es auch im biblisch bedeutungsbeladen betitelten „Land of Milk and Honey“. Tonfall und Setting könnten allerdings verschiedener nicht sein.
Es ist eine nahe Dystopie in einem von Artensterben, Klimawandel, Pandemien und Rechtspopulismus verwüsteten Europa. Allerdings eine, die ins milde Licht Norditaliens getaucht ist und trotz der bedrückenden Themen eher leichtfüßig daher kommt. Die Erzählerin ist Köchin in einer Zeit, in der eine Missernte die nächste ablöst und in der ein beinahe globaler ätzender Smog die Lebenserwartung von Mensch und Tier auf ein prähistorischer Niveau zurücksetzt – und der Plan, endlich ein eigenes Restaurant aufzumachen, zur absurden Utopie wird. Da kommt das Angebot einer der neuen Oligarchen-Familien gerade recht, für ihre abgeschottete Bunker-Villa auf einer Bergspitze mit Sonnenlicht, sauberer Luft, echten Nahrungsmitteln, Pflanzen, Tieren und tödlichen Elektrozäunen. Die Rolle der Köchin besteht erst vor allem in offensiver Unsichtbarkeit als Servicekraft vor der Familie und den zahlungskräftigen Gästen. Und später als Surrogat, Verkörperung der abwesenden Ehefrau und Ersatzmutter der Oligarchen-Familie. Es gilt, vor Investoren den schönen Schein zu wahren, was, wie sich nach und nach herausstellt, die eigentliche Qualifikation für die Anstellung der Köchin und einen Platz in dieser Superreichen-Arche war.
Denn die Tochter, instabiles Partygirl und brillante Biowissenschaftlerin, soll mit CRISPR-CAS die Welt retten, oder zumindest einigen hundert finanzstarken Kund:innen ein angenehmes Überleben garantieren. Das Szenario bietet also jede Menge Optionen für moralische Entrüstung über den Zynismus und die Dekadenz der designierten Überlebenden. Zhang reizt diese aber erfreulicherweise nicht bis zum Letzten aus. Wie schön, dass sie zumindest bei zwei Hauptfiguren eine gewisse ethisch-moralische Ambivalenz zulässt und nicht im erwartbaren Hobbes'schen Alle-gegen-Alle endet.
Viktor Gallandi – Kaspar (Karl Rauch Verlag, 2023)
Ein Kaspar Hauser mit Gedächtnisproblem in naher Mittelzukunft. Eine deutsche Genrearbeit im absurden Dunkel. Kafka mit (Peter) Licht. Jedenfalls ein Kaspar, der eines Tages in einem Krankenbett in einem eigenschaftslosen Zimmer in einem offenbar menschenleeren Gebäude in einer menschenleeren Gegend aufwacht, unfähig sich zu bewegen, versorgt von einem autonomen Roboter. Da sonst nichts, wirklich gar nichts passiert, versucht sich dieser überaus mitteilungsfreudige Kaspar zu erinnern, oder vielmehr eine Erinnerung zu konstruieren.
Wie er, von der Schule abgehauen, im Wald lebt, bei einer seltsam geheimnistuerischen Firma anheuert und von denen auf eine hochgradig abstruse Schnitzeljagd geschickt wird, auf der Suche nach einem abtrünnigen Filialleiter, in einem silbergauen Nissan Micra mit Baujahr in den Neunzigern. Gerade solche Details sind Kaspar offenbar wichtig. Andere, etwa was und warum das alles so passiert, weniger, da bleibt der Kaspar seiner Rolle getreu passiv. Dass er andererseits aber eben nicht in der Wildnis aufgewachsen sein kann, bezeugen erzählerische Manierismen, die von Streaming-Serien und Marvel-Comic- Verfilmungen abgeschaut scheinen, nicht nur Plot-Points und Cliffhanger, auch immer wieder die direkte Ansprache an die Leser:innen, selbstreferenziell und meta am Maximum, ironisch bis sarkastisch im Ton. So stolpert dieser Kaspar albtraumlogisch von einer tieftraurigen Alltagsabsurdität in die nächste. War der „Kaspar“ von Peter Handke eine Chiffre des Autismus, fragt sich Gallandis „Kaspar“ eher, wie sich – unter strikter Verleugnung, dass ihm, der ja eigentlich noch jung ist, so etwas zustoßen könnte – Demenz von innen anfühlt, wenn das Gedächtnis in Fragmente zerspringt und die schwermütigen Reste beginnen, ein verwildertes Eigenleben zu führen.