Pageturner – Mai 2023: langsames Flanieren, perfides Infiltrieren, fragiles PositionierenLiteratur von Michael Kimmelman, N. K. Jemisin und Bryan Washington
3.5.2023 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteDer Journalist Michael Kimmelman unternahm während der Pandemie lange Spaziergänge durch ein fast leeres New York, das sich plötzlich als „The Intimate City“ zeigte. Die Autorin N. K. Jemisin blickt in „The World We Make“ stilistisch ganz anders auf die Stadt – dabei sind viele Themen ganz ähnlich. Und Bryan Washington zoomt in „Memorial“ ganz nah an Houston heran, wo die Protagonisten nicht nur mit Gewalt, Homophobie und Rassismus umgehen müssen. Frank Eckerts Literaturempfehlungen für den Mai 2023.
Michael Kimmelman – The Intimate City (Penguin Press, 2022)
Es ist fraglich, ob ich in diesem Leben noch einmal nach New York komme, um die Originalschauplätze zahlloser Bücher und Bilder, Filme und Serien, Kunst- und Geschichtsorte so vieler gelebter Kultur(en) zu besuchen. Und ob es überhaupt Sinn macht, ob die rein ästhetische Betrachtung als außenstehender, unwissender und unbeteiligter Beobachter überhaupt eine tiefe Erfahrung jenseits touristischer Arglosigkeit bieten kann. Diese Lücke überwinden lässt sich aber eventuell dadurch, sich die Geschichte(n) der Stadt erzählen zu lassen. Von Menschen, die die Stadt lieben und intim kennen wie der für die New York Times schreibende Journalist, Urbanismus- und Architekturexperte Michael Kimmelman.
Wenn es dann noch von einer Menge wirklich toller Fotografien (alt und neu) umrahmt ist wie in „The Intimate City“, schrumpfen die touristischen Dasein(s)-Gründe weiter ein, außer natürlich man hat das Buch als Guide im Gepäck. Kimmelman hat während der Pandemie diverse Expert:innen seiner Stadt eingeladen, mit ihm durch die lockdownbedingt verhältnismäßig leeren Straßen zu flanieren und zu erzählen, was sie von der Stadt, von ihrem Viertel wissen, was ihnen wichtig ist. Also Geschichte, Kultur, Recht und Architektur, aber ebenso Geschichten von den Menschen, von der Infrastruktur, vom Ökosystem New York City und seiner „Five Boroughs“ (four actually, Staten Island fehlt mal wieder, kurzer Wink an N.K. Jemisins feine New York Romane). Von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der „City's City“. Die langsam voranschreitende Fußgängerperspektive dieser Echtzeit-Gespräche erdet die Themen zudem. Es gibt trotz teils sehr hoher Informationsdichte kaum einen Teil, bei dem ich nicht noch mehr hätte erfahren wollen. Aber nicht nur informativ und gelehrt sind die Gespräche, auch spannend und oft tief melancholisch, was nicht nur mit der Pandemie und Hypergentrifizierung vieler Teile New Yorks zu tun hat. Nach diesem Buch möchte ich nämlich tatsächlich unbedingt doch wieder all die interessanten Orte (noch) einmal selbst sehen.
N. K. Jemisin – The World We Make (Orbit, 2021)
Interessante Entscheidung: N.K. Jemisin, die ihre bisherigen Fantasy-Trilogien gerne ergänzt, erweitert, prequel- und sequelisiert hat, hat ihre „Great Cities“-Trilogie abgekürzt und lässt sie mit dem zweiten Band enden. Nachvollziehbar anhand der politischen und pandemischen Situation der USA im Zeitraum des Entstehens der Texte. Aber auch schade, weil die Charakterentwicklung gerade erst so richtig losging. Zur Erinnerung: Es geht um New York City, die Stadt und um die Personen, die NYC und seine „Five Boroughs“ jeweils personifizieren. Als neue Avatare mit mittelmäßigen Superheldenkräften, aber typischen New Yorker Stadtteileigenschaften, geboren in „The City We Became“ und direkt von einem fiesen körperfressenden Tentakel-Alien bedroht, das die Stadt und ihre Bewohner:innen übernehmen und gleichschalten möchte, haben diese die kommende Urbanitätsapokalypse (Gentrifizierung, Privatisierung, Kapitalisierung, Whitewashing) gerade noch so verhindert. Aber nicht mehr als bis zu einem fragilen Waffenstillstand.
Dieser wird im Folgeband bedroht durch Kräfte und Mächte, die New York lange ignoriert und nicht ernst genommen hat, die vollständig menschlich sind, aber praktisch dieselben Ziele verfolgen wie das/die Aliens: rechtspopulistische Politiker, rechtsradikale Schläger und zynische Real-Estate-Investoren, die Rassismus, religiösen Fanatismus, weiße Vorherrschaft und „Law and Order“ durchsetzen wollen, um alles und alle zu verdrängen und homogenisieren, die in ihren Augen nicht erwünscht sind: also alles was arm, nicht-weiß, queer, Kultur und Underground ist. Die Lovecraft’schen Tentakel der altbekannten Gefahr sind zwar immer noch akut und gefährlich, aber die neue Gefahr ist perfider, weil sie menschengemacht ist und die Avatare von ihrer Stadt und ihren Leuten abschneidet. Also der Kulturwandel durch die stete Wiederholung von Lügen, Hassparolen und alternativen Fakten.
Sehr subtil ist das natürlich nicht, vor allem in der jetzt noch kondensierteren Form. Aber es enthält leider viel Wahrheit über das New York, die USA und die Welt von 2022. Schon schade, dass die anderen Städte, die anderen Avatare, deren Geschichten im ersten Teil nur angedeutet wurden und später wieder aufgenommen werden sollten, dann doch hinten über gefallen sind und dass nur noch für zwei der Bouroughs (Manhattan und Queens) eine detaillierte Charakterzeichung mit innerer Entwicklung möglich war. Aus dem Setting hätte jemand mit den schreiberischen Fähigkeiten Jemisins doch noch viel mehr Geschichten herauskitzeln können. Etwa ein Serienformat, das mit Buffy, Grimm, oder Jessica Jones mithalten kann. Möglich wäre es gewesen, denke ich.
Bryan Washington – Memorial (Riverhead Books, 2020)
Wie „Lot“, Bryan Washingtons Short-Story-Debüt, spielt der Roman „Memorial“ in einem Teil von Houston, Texas, der schwul, schwarz und migrantisch geprägt ist. Im Gegensatz zum Vorgänger sind die Figuren hier relative soziale Aufsteiger. Sie schlagen sich nicht (mehr) mit Gangs, Gewalt und Armut herum, sondern mit den Problemen einer erkaltenden Beziehung, Stress im Job, abwesenden Vätern (und abwesender Anerkennung der Väter) sowie einer strengen japanischen Schwiegermutter.
Die beiden Erzähler, Benson – schwarz, einheimisch, Vertrauenslehrer und Betreuer an einer Kindertagesstätte – und Mike – japanischer Koch in einem mexikanischen Restaurant – kommen abwechselnd zu Wort, als Mike zu seinem sterbenden Vater nach Osaka fliegt und zeitgleich seine getrennt lebende Mutter aus Tokio zu Besuch kommt, also Benson allein mit der „Schwiegermutter“ zurückbleibt. Das ist im Ton und Perspektive natürlich wesentlich leichter und heller als „Lot“, die Figuren sind allerdings ähnlich komplex und ambivalent gezeichnet. Gewalt, Homophobie und Rassismus sind zwar weiterhin als Hintergrundrauschen präsent, aber eben nicht mehr unmittelbar existenziell bedrohlich. Sie geben den Figuren damit Raum und Zeit, sich mit den Subtilitäten ihres sozialen und Beziehungsstatus zu beschäftigen. Ich kann also nachvollziehen, dass „Memorial“ mit den cleveren Konversationsromanen Sally Rooneys verglichen wurde. Ein Unterschied vielleicht ist, dass sich Washingtons Figuren jederzeit über ihre fragile Position in den kleinen Inseln der Toleranz in der Stadt bewusst sind – und manchmal auch schmerzhaft daran erinnert werden.