Pageturner – März 2024: Zuhören, Reden, VerstehenLiteratur von Mathias Enard, Laure Adler und Jeffrey Jerome Cohen
4.3.2024 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteIn Frankreich zieht ein Ethnologe aus der Stadt aufs Land, um das dortige Leben zu verstehen. Erinnerungen, die Vergangenheit, aber auch die Gegenwart bestimmen den Puls von Mathias Enards Roman „Das Jahresbankett der Totengräber“. Bei Erinnerungen geht es immer auch um das Älterwerden. Mit diesem Thema setzt sich Laure Adler in „Die Reisende der Nacht“ auseinander. „Stein“ von Jeffrey Jerome Cohen dockt an diese Diskurs an – und schreibt einen in Stein gemeißeltem Rettungsanker, der die Geologie zum Ausgangspunkt mit unserer Welt macht. Zuhören, Reden, Verstehen – Frank Eckert hat wieder Pages geturnt.
Mathias Enard – Das Jahresbankett der Totengräber (Hanser Berlin, 2021)
Ein angehender Ethnologe und Anthropologe zieht von Paris aufs platte Land nach Deux-Sèvres, um für seine Doktorarbeit mit dem Thema „Was es heute bedeutet, auf dem Land zu leben" zu recherchieren. Und er verliert sich in der Geschichte und den Geschichten dieses abgelegenen Landstrichs im mittleren Westen Frankreichs. Eine zugegeben eher knappe Zusammenfassung eines Romans von barocker Fülle, derber Prallheit und gelehrter Üppigkeit. Alles ist Geschichte, alles sind Geschichten, von denen man ein Teil werden kann. In und mit hundert Interviews, die der junge Mann mit den Dörflern zu führen beabsichtigt, kommt es langsam zu einer Öffnung im Denken und den Emotionen des leicht überheblichen und ungelenk-arroganten, in sich gekehrten Städters.
Was selbstverständlich nicht ohne innere und äußere Konflikte verläuft, aber letztlich dazu führt, dass er nicht mehr weg will. So weit also alles im Rahmen der „Nu-Dorf“-Begeisterung, die sich auch hierzulande in immer mehr Romanen, Feuilletonartikeln und neu aufgelegten Zeitschriften manifestiert. Zum Glück wendet die lebensnahe, grobe, oft blutige und brutale Historie (von der römischen bis zur deutschen Besatzung, von Kollaboration, Heuchelei und Widerstand), die Mathias Enard seinem Dorf einschreibt, den Roman vor dem großstadtmüden Neo-Biedermeier (mit WLAN), der aktuell die hiesigen Bestseller-Regalmeter füllt.
Laure Adler – Die Reisende der Nacht. Über das Altern (Edition Tiamat, 2023)
Das Altern ist ein Thema der Philosophie, eventuell sogar ihr wichtigstes. Die Realitäten des Alterns sind dann nochmal eine ganze andere Sache. Definitiv aber mehr als nur eine Verfallsgeschichte. Laure Adler, die französische Kulturjournalistin (Radio und TV) und Verlegerin, stellt sich dem schwerwiegenden Thema auf hybride Weise, aus einer persönlichen Perspektive der selber Betroffenen.
Die Mittel der Analyse sind also Selbstbeobachtung und Gespräche, innere Versenkung, Alltagsbeobachtungen und Interviews – mit „Betroffenen“ wie auch mit Menschen, deren Arbeit mit dem Altern zu tun hat. „La voyageuse de nuit“ ist daher keine sozialwissenschaftliche Studie, kein kohärentes Theoriewerk sondern viel mehr eine ästhetisch und klug zusammengefügte Collage von Gedankenfetzen, Eindrücken, Zitaten und Konversationen. Was vielleicht keines Beweises bedurft hätte, jedoch immer wieder gesagt werden muss, ist, wie sehr das individuelle Altern von den persönlichen Umständen, nicht zuletzt von Klasse, Herkunft und Besitz abhängt. Und nicht weniger wichtig ist, wie bitter und verlustreich das Altern sein kann und doch nicht unbedingt ein Drama. Annie Ernaux etwa weiß: „Wichtig ist das Gefühl zu existieren [...] Das Alter ändert daran nichts.“ Und selbstverständlich Marcel Proust: „Das Alter ist von allen Realitäten diejenige, von der wir die längste Zeit unseres Lebens nur eine abstrakte Vorstellung haben.“*
Jeffrey Jerome Cohen – Stein. Ökologie des Nichthumanen (August Verlag, 2022)
Eine Studie zur tiefen Zeit, zum Anorganischen und Mineralischen, entlang der methodischen Spuren, die Michel Serres, Jane Bennett, Manuel de Landa, Bruno Latour und Lorraine Daston ausgelegt haben. Ein Versuch, dem zuzuhören, was die Dinge uns zu sagen zu haben – am Beispiel von Stein, Berg, Felsen, Fossil und Sediment.
J.J. Cohens tiefschürfende Studie findet die Expression der Materialität vor allem in mittelalterlicher Prosa, was im Zusammenklang mit den naturwisssenschaftlichen Themen ein spannende Ausgrabungsarbeit ergibt. Doch genug der arkanen lithischen Metaphern. Die meist stille Welt der Lapidarien und naturkundlichen fossilen Sammlungen, der steingehauenen Monumente und Figuren hat viel zu erzählen darüber, wie dynamisch die Welt ist, wie statisch wir Menschen sie oft wahrnehmen. Und darüber, wie sich unser Verhältnis zur Natur der belebten und unbelebten Dinge gestaltet. Cohens Buch ist ein junges Standardwerk dieser speziellen Art von Sachgeschichten, die versuchen neue Kommunikationskanäle zu öffnen in die ferne Vergangenheit und die nahe Gegenwart der uns umgebenden Materie der harten Dinge. Cohen – US-amerikanischer Geisteswissenschaftler und Kenner des angelsächsischen Mittelalters – plädiert leidenschaftlich dafür, unsere vermeintlichen aktuellen Gewissheiten über das Unbelebte von anderem, älterem Wissen erweitern und verunsichern zu lassen, sich auf das Wissen vom und im Stein einzulassen. Oder ganz wörtlich seismisch verstanden, sich von diesem Wissen erschüttern zu lassen. Dass dieses alte geologische Wissen der tiefen Zeit oft in Mythen und Sagen, Fiktion und Poesie transportiert wurde, bedeutet keinesfalls, dass es heute in Esoterik übersetzt werden müsste. Im Gegenteil. Wie klar und verstehbar es ist, macht Cohens tolles Buch jederzeit verständlich.