Pageturner – Literatur im Oktober 2022Ellie Eaton, Lea Ypi, Lauren Groff
4.10.2022 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteFür den Oktober 2022 pickt Frank Eckert drei Romane rund um das Thema Identität aus unterschiedlichsten Perspektiven. Ellie Eaton beschreibt in „The Divines“ das Heranwachsen in einem englischen Elite-Internat für Mädchen in den 1990ern. Ein Thriller ohne die üblichen Krimi-Mechanismen. Lea Ypi erinnert in „Frei“ eine Jugend in Albanien, einem der vergessenen Ländern Europas. Und Lauren Groff nimmt Leser:innen in „Matrix“ mit ins Mittelalter und das Leben einer jungen Frau, die unvermittelt die Priorin eines Klosters in England wird. Stolpersteine, Selbstermächtigung und Intrigen.
Ellie Eaton – The Divines (William Morrow, 2021)
Coming of Age an einer britischstmöglichen Eliteinstitution, dem Internat „St. John the Divine“ im ruralen Oxfordshire. Die Protagonistinnen von Eleanor „Ellie“ Eatons Roman sind solche „Divines“, wie sich die Schülerinnen selbst nennen, in bereits dritter Generation – alter Commonwealth-britischer Verwaltungs- und Banker-Adel.
Auf ihrer Hochzeitsreise erinnert sich die Erzählerin an ihre Zeit an der Mädchenschule, einer von der Außenwelt und der nächstliegenden Kleinstadt sozial wie geschlechtlich strikt abgetrennten kokonartigen Eigenwelt. Was während ihrer Zeit als „Göttliche“ passiert ist, warum die Protagonistin alle Brücken zu anderen Ehemaligen abgebrochen hat und was letztlich zur Schließung der Schule führte – das kommt nur zögerlich und mit Widerstand, auf wiederholtes Insistieren des Neu-Ehemannes zur Sprache. Eaton erzählt mit Suspense auf zwei Zeitebenen. Was aber direkt klar wird, ist, dass die grundlegenden Konflikte und Bruchlinien entlang von Klasse und Habitus verlaufen. Klar eigentlich, wir befinden uns ja noch im Post-Thatcher-England der frühen Neunziger.
Es beginnt damit, dass sich die Erzählerin mit dem unbeliebtesten Mädchen des Jahrgangs (unbeliebt, weil sie überaus ehrgeizig und wettbewerbsorientiert agiert und mit ihrer Eislaufkarriere besondere Ausgangspriviligien genießt, vor allem aber weil ihre Eltern soziale Aufsteiger sind) ein Zimmer teilen muss. In einer Kette von an sich eher lächerlichen und marginalen Ereignissen, die sich allerdings zuspitzen und letztlich zur Schließung führen, eskaliert die Kollision von unausgesprochenen Coolness-Codes, verinnerlichten Konventionen, Gruppendruck und individuellem Aufbegehren. Die aufgeladene Atmosphäre des geschlossenen Systems Internat, eine Blase, in der Loyalität groß geschrieben wird, Freundschaft jedoch ohne Bedingungen kaum möglich scheint, beschreibt Eaton mit kühler Faszination und Empathie die privilegierte, doch in vielem ungelenk agierende Erzählerin als eine, die ihre Unsicherheiten nicht immer im Griff hat, aber immerhin (meistens) über genug trockene Ironie verfügt den eigenen Mängeln würdig zu begegnen.
Keine Sozialstudie, kein Familiendrama also, sondern eher ein exzellent beobachteter Thriller (ohne eigentliche Krimihandlung) im Upper-Class-College-Milieu.
Lea Ypi – Frei (Suhrkamp, 2022)
Albanien war, mindestens aus der voreingenommenen BRD-Perspektive, lange Zeit das unbekannteste und fremdeste Land Europas. Eine abgeschottete Blase, in der eine stalinistische Form autoritären Sozialismus’ lange über sein Verfallsdatum im Rest der Welt hinaus existieren konnte. Dann plötzlich war Albanien, wieder aus der vereinigungsdeutschen Wohlstandsperspektive, das instabilste, chaotischste und in wirtschaftlicher Hinsicht abgehängteste Land Europas. Die am wenigsten nach Hoffnung und Zukunft aussehende Gegend, gerade mal eine Flugstunde von Italien oder Österreich. Was aber wirklich los war? Wie fühlte es sich tatsächlich an, in einem Land aufzuwachsen, das die hintersten Plätze der einschlägigen Statistiken belegte, von Kindersterblichkeit und Lebenserwartung über Bruttoinlandsprodukt zu Pressefreiheit und Korruptionsindex?
Lea Ypi, die heute Politik in London lehrt, ist unter der strengen Liebe des „Onkel Enver“ aufgewachsen. Sie hat die Wendezeit, den Krieg und die Enttäuschungen der Freiheit als Teenager miterlebt. Ihr Roman-Memoir, das an vielen Stellen nahtlos in ein sozioökonomisches oder philosophisches Essay übergeht, erzählt von den vielen Wahrheiten, die sich in der albanischen Lebensrealität kreuzen. Und von den Implikationen negativer und positiver Freiheit, der „Freiheit zu“ und der „Freiheit von“, was eben nicht wenige der arroganten westlichen Annahmen über das Land und ihre Bewohner:innen in Frage stellt. Der relativen Armut, absoluten Machtlosigkeit, ideologischen Indoktrination und alternativlosen Unterordnung im Kollektiv stand in der Gesellschaft ein Gefühl der Sicherheit und Kontinuität gegenüber – eine starke Solidarität im familiären, nachbarschaftlichen Nahbereich, aber auch darüber hinaus. Die ungeahnten Freiheiten und Hoffnungen, die mit dem Kapitalismus kamen, brachten neue Arten von Ungleichheit und Ungerechtigkeit – und nicht zuletzt ein unvorhergesehenes Maß an Brutalität und Unsicherheit.
Weil Ypi dies je nach Thema mit nüchterner Distanz, hochemotional oder mit einiger Ironie erzählt, wirkt der Text offen und kann wie die beste Literatur vielseitig interpretiert und individuell anschlussfähig gelesen werden. Es ist eben kein Manifest für oder gegen den Kapitalismus. Die Erkenntnisse, die sich hier zahlreich anbieten, aber nicht erzwungen werden, sind komplex. Es gibt keine einfachen Wahrheiten. Und den sich gerne radikal gerierenden West-Linken, die Ypi in ihrer Studienzeit trifft und die vor allem tote Revolutionäre verehren, kann dieser Roman nur mit leicht bitterem Humor begegnen. Mit der albanischen Erfahrung weiß sie, dass diese kommunistischen Helden einfach nur früh genug gestorben sind, bevor sie selbst zu zynischen Gewalttätern wurden.
Lauren Groff – Matrix (Riverhead Books, 2021)
Eine monothematische Autorin zu sein, kann man Lauren Groff definitiv nicht vorwerfen. Nach den brillanten Short Stories in „Florida“, wo der Zusammenhang von Klimawandel und Klasse subtil behandelt wurde, folgt mit dem epischen Roman „Matrix“ nun eine interessant gewendete Emanzipations- und Selbstfindungsgeschichte einer illegitimen französischen Königstochter im Angleterre des Hochmittelalters. Die Heldin wird als Teenager aus erbpolitischen Gründen zur Priorin eines abgelegenen Nonnenklosters bestimmt. Wie die für die damaligen Verhältnisse extrem verwöhnte Siebzehnjährige in der eigentlich unmöglich scheinenden Rolle der weltlichen und ökonomischen Leiterin des Klosters ganz oben anfängt, gleichzeitig aber auf geistlicher Ebene ganz unten, als Novizin/Anwärterin, das ist tatsächlich eine spannende Geschichte. Erzählt wie ein Coming-of-Age in einer mehr als unwirtlichen von Hunger und Krankheiten gezeichneten Sumpflandschaft, 30 Tagesreisen zu Pferd vom Königshof entfernt.
Der Roman und seine Hauptfigur sind in erzählerischer Subjektivität und Tonfall vollständig modern, könnten also in einer Reihe mit den derzeit so populären Historical Fiction stehen. Dagegen spricht aber, dass die Emanzipation, das Coming-of-Age, um das es geht, tatsächlich identitätspolitisch archaisch wirkt, eben keine Befreiung aus familiären oder institutionellen Zwängen, keine kreative Selbstfindung ist. Im Gegenteil: Die Themen sind Erfüllung durch Selbstaufgabe, Entwicklung durch Anpassung an die gegebenen Strukturen, Einpassung in die strenge Hierarchie und Akzeptanz des engen wie unverrückbaren sozialen Rahmens, in dem Individualität gering geschätzt wird und jahrhundertealte Prozeduren stetig wiederholt werden.
Oder ist das vielleicht doch ganz besonders modern? Denn bei aller Entbehrung, Aufgabe des Selbst und der eigenen Bedürfnisse wird doch zugleich eine ganz aktuelle Erfolgsstory eines damals wie heute zeitgemäß nachhaltigen Managements erzählt. Aus dem Nichts, aus dem Elend zum erfolgreichen Unternehmen durch Leadership, Rollenfindung, bei sich selbst und im „Team“? Was da passiert, gibt dem unpopulären Denken von „Das Beste daraus machen" massiv an Würde zurück.
Interessant ist, dass Groff bei ihrer Heldin auffällig auf jede Art von Glaubensinhalten und religiösen Werten verzichtet, die über die alltäglichen Konventionen und Rituale des Klosters hinausgehen. Sie ist eine Art agnostisch-materialistische Mystikerin, wenn es sowas gibt. Geschrieben ist es wie „Florida“: bildstark, würzig, erdig.