Pageturner – Literatur im Oktober 2021Michelle Zauner, Nicole Flattery, Adeline Dieudonné
4.10.2021 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteWer schreibt, der bleibt. Vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist der Pageturner und versorgt uns jeden Monat mit Reviews seiner literarischen Fundstücke. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Diesen Monat geht es zwei Mal um Identität. Die eine mit koreanischen Wurzeln in den USA, erzählt von der Sängerin der Band Japanese Breakfast. Die andere von Nicole Flattery, die in ihren Kurzgeschichten das Aufwachsen in Irland dokumentiert – mit allen Schwierigkeiten und Hürden. Dazu kommt Adeline Dieudonné, die den Horror der Vorstadt-Siedlung hinter den zugezogenen Gardinen thematisiert.
Michelle Zauner – Crying in H Mart (Picador)
Das Buchdebüt von Michelle Zauner, die mit ihrer Band Japanese Breakfast vor Kurzem die locker mal beste Indie-Disco-Platte der letzten fünf, zehn Jahre gemacht hat, ist eine Autobiografie alter Schule und darin nicht weniger lebensgut und nah wie ihre Musik. Die Tonalität des Buches ist allerdings eine andere, weniger exaltiert und outgoing und auf längeren Strecken sogar tieftraurig. Denn im Wesentlichen erinnert der Text an Zauners Mutter, die noch relativ jung an Krebs gestorben ist. Gleichzeitig geht es um Zauners Identität als koreanisch-US-amerikanische Frau. Hochinteressant ist das, weil der Schauplatz und Wesenskern von Zauners in vieler Hinsicht „gemischten“ Identität, aber auch der Großteil ihrer Erinnerung an ihre Mutter in der Küche und beim Essen und Trinken abspielt, im speziell koreanischen Umgang mit der Zubereitung und dem Konsum von Nahrung, im Import und Export der jeweiligen Vorlieben, Eigenheiten und Traditionen von Korea in die USA und wieder zurück.
Ein Gutteil der besten Erinnerungen hat mit der Erfahrung von Geschmack und Geruch zu tun, nicht nur der koreanischen Küche. Der Titel des Buches bezieht sich etwa auf ein wiederkehrendes Überwältigtsein von Erinnerungen, das auch mal in Tränen enden kann. Denn der „H Mart“ ist eine US-amerikanische Supermarktkette, die sich auf Lebensmittel aus Asien spezialisiert hat, und somit in der Lage ist, eine unwillkürliche Verbindung zur Mutter herzustellen, die – in aller supermarktlichen Profanität – erhaben und wahrhaftig ist. Zauner kann diese Emotionen glaubhaft und sinnlich in Text übertragen, und das macht diese schmerzvolle Autobiografie zu etwas wirklich Besonderem.
Nicole Flattery – Show Them A Good Time (Bloomsbury)
Identität und Klasse, die immer akuten Leerstellen jeden Lebens, sie geben auch die Angelpunkte, die leeren singulären Attraktoren, um die die Kurzgeschichten im Debüt der Irin Nicole Flattery oszillieren. In brillant polierter Sprache baut „Show Them A Good Time“ clevere Sprüche und scharfe Beobachtungen umeinander, dass es immer wieder so klingt, als sei Flattery durch die harte Schule der Stand-Up-Comedy oder der Poetry Slams gegangen. Der entscheidende Unterschied ist allerdings, dass ihre Stories sorgfältig konstruiert sind. Sie kreisen um einen Abgrund, der mal genannt, mal nur angedeutet wird, und aus sexueller Gewalt, Verwahrlosung, Armut und Anomie oder einfach „nur“ miesem Sex und Gefühllosigkeit bestehen kann, gerne mit Genreelementen aus Fantastik, Horror, Thriller oder dem absurden Theater garniert. Beckett als Social-Beat-Performer aus der Perspektive von Frauen oder Mädchen mit beschissenen Jobs auf Mindestlohnniveau und von Eltern wie Peers anerzogen niedrigem Selbstwertgefühl.
Ähnlich wie in den Romanen junger Autorinnen aus Japan, die in jüngster Zeit erfreulicherweise vermehrt übersetzt werden, geht es um das existentielle Gefühl, nicht dazu zu gehören (es nicht zu können). Nicht den Normen der Gesellschaft zu entsprechen als Mädchen oder Frau, die nicht die ökonomischen und sozialen Voraussetzungen mitbringt, um ihre Seltsamkeit, ihren Außenseiterstatus gesellschaftlich produktiv (zum Beispiel zu Kunst, zu Literatur oder Musik) zu machen. Weil Flattery aus Irland kommt und zur selben „Y“-Generation zählt wie Sally Rooney, wird sie offenbar ähnlich vermarktet (siehe Cover). Doch mit den netten smarten Konversationsromanen Rooneys haben Flatterys Geschichten nicht viel zu tun. Sie sind dunkler, lustiger, trauriger und viel fieser.
Adeline Dieudonné – Das wirkliche Leben (dtv)
Der Horror wohnt in einer grauen Reihenhaussiedlung in der Vorstadt, irgendeiner Vorstadt, jeder Vorstadt. Die Familie wird von einem Haustyrannen terrorisiert, einem Buchhalter und Säufer, der gerne Großwildjäger wäre, und sich mit ausgestopften Tierkadavern umgibt. Dazu kommt eine vor Angst erstarrte, emotional geschrumpfte Mutter und die beiden Geschwister (6 und 10, die ältere erzählt), die versuchen, mit der Tristesse und der latenten, manchmal aber auch allzu realen Gewalt klarzukommen, sich bemühen trotz allem irgendwie zu leben. Doch die wenigen Verbündeten brechen nach und nach weg, die kleinen Freiheiten verschwinden mit ihnen.
Zum Beispiel der Mann vom Eiswagen, der immer die verbotene Extraportion Sahne auf die Waffeln gab und in einem grauenhaften Unfall stirbt. Es bleibt die Angst vor dem nächsten Wutanfall des Vaters. Derweil entwickelt sich der kleine Bruder langsam zum Nachwuchs-Psychopathen mit allen Indizien, etwa Tierquälerei. Die fast zwangsläufige Eskalation, die Katharsis in Gewaltexplosion, kommt langsam – es dauert mehrere Jahre. Der Debütroman der belgischen Schauspielerin Adeline Dieudonné erzählt diesen Slow-Horror, die permanente Bedrohung und angstvolle Anspannung in extrem reduzierter kühler Sprache und einfachen Bildern, der engen horizontlosen Welt der Protagonisten angemessen. Eine Coming-Of-Age-Geschichte unter bedrohlich erschwerten Bedingungen.