Pageturner: Literatur im Oktober 2020Zoe Beck, Liz Moore, Aaron Bastani
5.10.2020 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteWer schreibt, der bleibt. Vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist der Pageturner und versorgt uns jeden Monat mit Reviews seiner literarischen Fundstücke. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Nach selbstverordneter Sommerpause der Redaktion pickt der Autor drei Bücher für den Herbst. Zwei Romane zwischen netter Zukunft und harter Realität und ein Manifest zur Zukunft unserer Gesellschaft. Zwischen Deutschland im Hygge-Modus, Drogenabhängigkeit an der US-amerikanischen Ostküste und einem automatisierten und ausgesprochen luxuriösen Kommunismus.
Zoe Beck – Paradise City (Suhrkamp, 2020)
Eine nette freundliche Zukunft ist das, die Zehnmillionen-Metropole Frankfurt ist smart, grün und autofrei, das Gesundheitssystem gratis und effektiv, das Grundeinkommen bedingungslos, Arbeit erfüllend und auf 20 Wochenstunden begrenzt. Luft, Wasser und Nahrung sind sauber, das Fliegen verpönt, Reisen sowieso gar nicht mehr cool. Selbst religiöser oder politischer Fanatismus scheint marginal geworden. Allerdings sind kritischer Journalismus und kosmopolitisches Denken auch nicht mehr besonders angesagt. In diesem Umwelt- wie menschenfreundlichen und selbstgenügsamen Hygge-Deutschland sind die apokalyptischen Bedrohungen von Pandemien, Verteilungskriegen und Klimawandel Vergangenheit. Alles hochtechnologisch „smart“ gelöst. Das System ist nur ein klein bisschen totalitär und weitgehend gewaltfrei. Es ist sogar möglich, außerhalb des strikten Monitoring zu leben ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Und doch scheint etwas faul zu sein in der Komfort-Zone. Die Heldin des Romans kommt dem auf die Spur, als sich in ihrem Arbeitsumfeld, der bedeutungslos gewordenen „Wahrheitspresse“, seltsame Todesfälle häufen (von Schakalen totgebissen – in der Uckermark).
Zoe Beck, die man eventuell von ihren eleganten Übersetzungen der Konversationsromane Sally Rooneys kennt, hat ihrem SF-Thriller einen ähnlich schnellen und smarten Tonfall verpasst. Der Krimi-Plot wird allerdings manchmal durch das Übermaß an Themen (Überwachung, Plattform-Kapitalismus, Gesundheitswesen, Big Pharma, soziale Kontrolle, Klimawandel, Hacker, …) ausgebremst. Aber die eher konventionell runtergeratterte Handlung ist nicht unbedingt das, was den Roman interessant macht. Eher die (durchaus gemeine) Frage, wie man mit einem System umgeht, das in vielen Dingen gar nicht mal so schlecht ist und von dem man wie die Protagonistin ob eines angeborenen Herzfehlers mit zwei Transplantationen selbst ordentlich profitiert hat? Und das sowieso viel mächtiger, umfassender und überblickender scheint als man selbst? Ist es nicht auch eine immense Erleichterung, die harten Entscheidungen einer dritten (wenn auch nie neutralen) Instanz zu überlassen? Und wäre es dann nicht okay, der permanenten algorithmischen Bevormundung einfach klein bei zu geben, selbst wenn es vereinzelte Kollateralschäden gibt, wenn die Nebenwirkungen manchmal größer sind als offiziell zugegeben wird? Um den Preis der Unsichtbarkeit all jener, die nicht hineinpassen, unheilbar oder zu schwach sind? Die Antworten von Becks Figuren fallen längst nicht alle so eindeutig moralisch, wie man sich vielleicht erhoffen würde. Oder letztlich vielleicht doch?
Liz Moore – Long Bright River (Riverhead Books, 2020)
Es gibt Themen, die auch in und nach Covid-19 Zeiten nicht an Dringlichkeit verlieren, zum Beispiel ein Weltthema wie das Anthropozän, oder spezifischer in den USA die explodierende Zahl an Opioid-Abhängigkeiten. Eine Suchtkrankheit, welche meist mit verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln wie Fentanyl beginnt, aber eben noch anhält, wenn das schmerzauslösende Problem schon längst austherapiert ist und mit der Suche nach anderen Quellen und illegalen Ersatzstoffen zunehmend die Kontrolle aller Aspekte des Lebens übernimmt. Endstation wahlweise Heroin, Obdachlosigkeit, Beschaffungskriminalität oder genauso oft der Exit Überdosis.
In Liz Moores „Long Bright River“ ist das Oxycontin der Ereignishorizont, das stete statische Hintergrundrauschen einer Familien-, Großstadt-, Klassen- und Kriminalgeschichte. Die Stadt ist Philadelphia, die Klasse die weiße Unterschicht und die Familie eine dysfunktionale Nicht-Gemeinschaft zweier Schwestern, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Hineingeboren in einen Clan irischstämmiger Kleinkrimineller mit teilweise schon vererbten Substanzproblemen, wird die ältere, die Erzählerin, zur Streifenpolizistin, die jüngere Junkie. Wie es dazu kam, erzählen zahlreiche rückblickende Zeitsprünge. Die „now“ Story in 2017 nimmt mit dem spurlosen Verschwinden der Schwester Fahrt auf, denn in Kensington (in Philly das exakte Gegenteil des Londoner Millionärsviertels) ist ein Serienkiller unterwegs, der es auf Junkies, Gelegenheitsprostituierte und Obdachlose abgesehen hat – leichte Opfer, bei denen die Polizei kein Interesse an einer gründlichen Aufklärung hat, lieber Überdosis attestiert und ab mit der Akte ins Archiv.
Da die Erzählerin hat etwas gegen diesen Dienst nach (ungeschriebener) Vorschrift hat, geht es im Roman um Macht und Hierarchien, um Armut und Sucht, um Familie und Freundschaft unter jeweils deutlich erschwerten Bedingungen im sozial wie klimatisch kalten November Pennsylvanias. Der unsentimentale sozialrealistische Stil, der Blick von unten erinnert an „The Wire“ – Baltimore ist ja nicht so weit. Allein das sollte als wärmste Empfehlung für dieses Buch eigentlich schon genügen.
Aaron Bastani – Fully Automated Luxury Communism (Verso, 2019)
Was nach dem Ende des Kapitalismus kommt – also was sich nach dem berühmten Sprüchlein von Frederic Jameson, Slavoj Zizek und/oder Mark Fisher schwerer vorstellen lässt, als das Ende der Welt –, stellen sich mittlerweile immer mehr Menschen vor. Sei es nun ein neuer Feudalismus ausgehend von den großen Digitalkonzernen, ein autoritär ökologischer Totalitarismus oder einfach „nur“ ein Massensterben der Arten (inklusive oder exklusive des Menschen). Wie McKenzie Wark, Joel Kotkin und einige andere allerdings gezeigt haben, liegen Utopien jenseits der zynischen Erwartung des Endes im „weiter so“ in jüngerer Zeit wieder deutlicher sichtbar im Bereich des Denkbaren.
Für den britischen Medienwissenschaftler Aaron Bastani liegt ein digitaler Feudalismus der Superreichen – oder ein autoritäres Kontrollregime chinesischer Prägung – genauso im Bereich des Möglichen, wie eine dritte, radikal demokratische Option, die er „Fully Automated Luxury Communism“ nennt. Sicher ist eigentlich nur, dass das Weitermachen wie bisher im rasenden Stillstand (Klimawandel, Ungleichheit, Armut – schon alles nicht schön, aber wir haben wenigstens alle ein neues iPhone) auf Dauer nicht möglich sein kann und wird. Ob das, was danach kommt, noch demokratisch ausgehandelt werden kann oder schon nicht mehr, ist die entscheidende Frage. Bastani teilt diesbezüglich den technologischen Zweckoptimismus der kalifornischen Disruptoren, nicht aber deren „kalifornische Ideologie“. Der Luxus-Kommunismus, den er vertritt, entspricht aber ebensowenig dem der orthodoxen Linken. Es geht vielmehr um einen Kommunismus, der jenseits von Arbeit und Klassen funktionieren muss, der die Grenzen zwischen dem Nützlichen und dem Ästhetischen, zwischen Arbeit und Freizeit auflöst.
Der entscheidende Punkt ist, dass in einer Ökonomie des Überflusses, wie der digitalen, das Konzept von Konkurrenz und Wettbewerb nicht mehr entscheidend ist, sondern ein artifizielles Konstrukt, welches der Digital-Welt von ihren großen Playern/Plattformen artifiziell übergestülpt wurde. Gründe für einen Techno-Optimismus sieht Bastani in exponentiell wachsenden Fortschritten wie im Modell von „Moore’s Law“, nach der sich die Rechenkapazität elektronischer Komponenten bei ungefähr gleichbleibenden Kosten alle 18 Monate verdoppelt. Er findet oder antizipiert exponentielles Wachstum in allen Lebensbereichen via Automation, Künstlicher Intelligenz, neuen Energien, neuen Wegen der Ernährung (ohne Protein von Säugetieren), Erschließung neuer Ressourcen (vor allem jenseits der Erde) und ungeahnten Durchbrüchen in der Gesundheitsforschung (wiederum durch Big Data, Automation und KI). Wenn also in keinem Lebensbereich mehr Ressourcenknappheit besteht, ist der Weg frei für den FALC, den vollautomatischen Luxuskommunismus seines Buchtitels.
Es ist ja schon erfrischend und definitiv mitreißend, einen derart ungebrochenen Machbarkeits-Optimismus aus einer dezidiert linken bis linksradikalen Perspektive zu lesen. Mehr als sternenäugiges Wunschdenken eines (bewusst?) naiv agierenden Technophilen ist es aber nicht unbedingt. Zumal sämtliche Psychologie und Sozialpolitik ausgeblendet werden – zugunsten einer naturwissenschaftlich-technischen Sichtweise. Dazu kommt, dass sich die vorgeschlagenen Wege zum Wohlstandskommunismus für alle erstmal erstaunlich linkskonservativ anhören: Privatisierung stoppen, Outsourcing staatlicher Schlüsselindustrien (Gesundheitssystem, ÖPNV, digitale und analoge Infrastruktur, Bauwesen, Wasser, Abwasser, Strom) rückgängig machen, bedingungsloses Grundeinkommen, stärkere Regulierung oder Abschaffung derivativer Finanzmärkte. Alles moderate grün-rote Maßnahmen.
Die Vorstellung, dass es sich mit Marx und der „dritten Disruption“ der digitalen Technologien so verhalten könnte wie der Reformation von Wycliffe und Luther (letzterer dank technologischen Fortschritts durchschlagend erfolgreich, ersterer hundert Jahre zu früh für den Buchdruck – heute vergessen) hat einen gewissen Charme, aber auch jede Menge Lücken und benötigt zur Umsetzung Voraussetzungen und Automatismen, die mitunter sehr weit hergeholt klingen.