Pageturner: Literatur im November 2018Tristan Garcia, François Cusset und Laurent de Sutter
26.11.2018 • Kultur – Text: Frank Eckert, Illustration: Susann MassuteWer schreibt, der bleibt. Das gilt vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner neuen Kolumne macht Frank Eckert genau das – er ist unser Pageturner. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. In dieser Folge: der neue Star der französischen Philosophie Tristan Garcia über Identitätspolitik, der Amerikanist François Cusset zu 50 Jahren gescheiterter Konterrevolution und Laurent de Sutter über die Erfolgsgeschichte des Kapitalismus, die ohne Narkotika so nie passiert wäre.
Tristan Garcia - Wir (Suhrkamp)
Der Jungstar der französischen Philosophie (von dem ich bisher ein überkompliziert akademisches Buch zum Spekulativen Realismus und ein populärwissenschaftliches zu „Intensitäten“ gelesen habe) und Popliteratur (die großartige queere Coming-of-Age-in-Zeiten-von-HIV Geschichte „Hate: A Romance“ und das weniger gelungene Teenagerdrama „Faber: der Zerstörer“) beschäftigt sich in seinem jüngsten ins Deutsche übersetzten Buch mit Identitätspolitik, der Frage, wie wir „Wir“ sagen. Sehr erfreulich ist dabei das „Wie“: ohne vorausgesetztes Vorwissen und vor allem ohne den im Genre oft krassen Fachjargon. Im ersten Teil des Buchs gibt er einen Abriss über die Historie der Identitätspolitiken, in rechter (Carl Schmitt und Antagonismus) wie in links-emanzipativer Ausprägung (Feminismus, Postkoloniale Theorien, Gender/Queer Theorien, Antirassismus, Marx, Lenin und Klassenkampf), wobei diese in seiner Darstellung im Konzept der „Intersektionalität“ konvergieren. Diese Idee, auch schon knapp 30 Jahre alt, geht (extrem vereinfacht gesagt) davon aus, dass per se keine Art von Ungerechtigkeit oder Repression gegenüber bestimmten Gruppenidentitäten einen „natürlichen“ Vorrang hat (wie etwa die „Nebenwidersprüche“ Rasse und Geschlecht gegenüber dem „Hauptwiderspruch“ Klasse in der „Diktatur des Proletariats“), sondern nur in ihren Schnittstellen in den Personen (z.B. schwarz, arm, weiblich, HIV-positiv, Migrant) analysiert und aufgelöst werden kann. Garcia ergänzt die intersektionalen Theorien mit einer eigenen, die mit der simplen wie einleuchtenden Metapher der Überlagerung transparenter stapelbarer und verschiebbarer Identitätsfolien arbeitet: Wer etwa die Folie „Klasse“ zuunterst legt, sieht auf den übergeordneten Folien eventuell keine Differenzen mehr was Rasse oder Gender angeht, weil die Folie hier schon von Klasse geschwärzt ist – und umgekehrt.
Die Möglichkeit des „Wir“ bildet sich immer in den übriggebliebenden transparenten Flächen und ist nie fixiert oder statisch. Im Prinzip ist Garcias „Wir“-Theorie also eher ein Makeover der Intersektionalität als eine harte Kritik oder Neuerfindung. Im zweiten Teil konkretisiert er seine Theorie dann anhand verschiedener Anwendungsfelder wie Klasse, Rasse, Gender und Alter und verteidigt sie gegen altbekannte und neue Einwände. Eine derart fundamentale wie wohlbelesene Verteidigung der Identitätspolitik ist nach den massiven Angriffen von rechts wie links in den vergangenen Jahren ziemlich erfrischend und wohl auch mal notwendig gewesen. Im Gegensatz zu seinen deutschen Philo-Jungstar-Kollegen, die mir oft etwas zu polemisch argumentieren (Han, Gabriel), weiß Garcia immer worüber er spricht, nimmt auch Einwände und Kritik an den verwendeten Theorien und Konzepten zur Kenntnis und diskutiert diese. Trotz allem bin ich mit dem Buch nicht hundert Prozent glücklich geworden. Einerseits greift es recht spät in die Diskussion ein, anderseits stört der extreme Fokus auf seine bestimmte Sichtweise von Identitätspolitik: In der Welt des „Wir“ gibt es keine Politik außerhalb der Identitätspolitik – keine Möglichkeit der Solidarität mit Menschen, Tieren, Pflanzen oder Dingen, die außerhalb eines (zugegeben dynamisch und flexibel gedachten) „Wir“ liegen.
François Cusset - How The World Swung To The Right (Semiotext(e))
Ein kleines dicht gepacktes Buch, das die diversen Entwicklungsfäden ent- und verflechtet, die in globaler Ökonomie, sozialgesellschaftlicher Makropolitik und individueller Mikropsychologie verknüpft und verheddert sind. Cusset ist Amerikanistik-Professor in Paris, was die erfreuliche Konsequenz hat, dass seine Blickrichtung wenig bis gar nicht Frankreich-zentriert ist, sondern global, mit Schwerpunkt auf den alten und neuen Westen: USA, England, Deutschland, Spanien, Brasilien, Venezuela. Die erste Hälfte des Buches versucht eine knappe geschichtliche Übersicht darüber zu geben, wie es zur aktuellen Situation kam. Das passiert auf mehreren Ebenen. Einmal die leidlich bekannte ökonomisch-politische Schiene – wie aus einem initial rein ökonomisch gedachten Neoliberalismus via Pinochet, Reagan und Thatcher zu den heutigen Rechtspopulisten ein tendenziell antidemokratischer Neokonservativisimus wurde, wie gleichzeitig aus libertären Hippies und mehr oder minder radikal linken 68ern Identitätspolitik und die kalifornische Ideologie der Internet/Technologiekonzerne entstehen konnte und wie sich auf der individuellen Ebene die Arbeitswelt dadurch geändert hat, quasi vom Bandarbeiter zum Influencer. Auch wie Ungleichheit wahrgenommen wird, wie Armut und Krankheit zu individuellen Problemen gemacht wurden. In diesem Teil steht wenig neues, es ist aber sehr gut auf den Punkt gebracht und die Wirkungen auf den verschiedenen Skalen von individualpsychologisch bis global anschaulich zusammengebracht.
Die etwas kürzere zweite Hälfte des Buches befasst sich mit den Lücken im System, der Frage wie etwas gegen all die Ungerechtigkeiten und Übel getan werden kann, ohne die Kontrolle, die Macht, die Regierung (global, lokal auf welcher Skala auch immer) zu übernehmen. Wie lässt sich etwas erreichen ohne Revolution? Hier ist Cusset erstaunlich optimistisch, auch wenn seine fast durchwegs traurig endenden Beispiele (vom arabischen Frühling und Occupy über Syriza und Podemos zu Chavez/Maduro) eher gegen einen allzu fröhlichen Ausblick sprechen. Gegen jeden Trend sieht er sogar in kulturellem und musikalischen Underground (zumindest potentielle) Keimzellen von Widerstand und Besserung. Dieser von Zynismus und Sarkasmus freie Blick ist heute ziemlich selten geworden, naiv ist er nicht. Allein deswegen schon ein interessanter und erhellender Text.
Laurent de Sutter - Narcocapitalism (Wiley)
Eine kleine Geschichte der Betäubung. Für den belgischen Juristen Laurent de Sutter ist die Geschichte des Kapitalismus seit dem mittleren 19. Jahrhundert untrennbar mit der Geschichte der legalen und illegalen Narkotika verknüpft. Der nicht allzu lange aber dichte Text erzählt die Historie dieser Verbindung nach, die immer auch eine Knotenpunkt ist, an dem sich Individuum und Gesellschaft, Körper und Geist treffen. Von der Erfindung der Anästhesie als Schmerzunterdrückung bei Operationen und dem erweiterten Schmerzmanagement via Opiaten zum heutigen allgegenwärtigen Emotions-Management via Antidepressiva und Opioiden. Erzählt wird diese Geschichte entlang verschiedener Substanzen wie Chloralhydrat, Chlorpromazin, Immunsuppressoren, Kokain und der „Pille“, die alle eine hakenschlagende Karriere gemacht haben und oft erstaunliche Querverbindungen aufweisen. Kokain etwa wurde zu legalen Zeiten als perfektes Agens beworben, um vom Morphium runterzukommen, später als Wachmacher und soldatische Durchhaltedroge geschätzt, bis es sich als Nachtclub/Partydroge etablierte, illegalisiert und zum Zentrum des US-amerikanischen „war on drugs“ wurde.
De Sutter belässt es weitgehend bei einer originellen Bestandsaufnahme. Eine übergeordnete Theorie der abgebildeten Phänomene liefert er nicht - was vielleicht sogar ein Vorteil ist. Denn einige der Puzzleteile sind superinteressant. Spannender ist der Versuch, sich die Zusammenhänge mit den gegebenen Bruchstücken selbst zu erschließen.