Pageturner – Literatur im November 2020Tricia Sullivan, Susanna Clarke, Lauren Groff
2.11.2020 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteWer schreibt, der bleibt. Vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist der Pageturner und versorgt uns jeden Monat mit Reviews seiner literarischen Fundstücke. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Für den November-Lockdown empfiehlt Eckert zweimal harte Fantasy und einmal nicht minder harte Realität.
Tricia Sullivan – Sweet Dreams (Gollancz/Titan Books)
Traumtherapie (ohne „a“) und Traumreise (ohne Kreuzfahrtdampfer) sind ein dankbares und nicht gerade selten bespieltes Thema in SF und Fantasy. Tricia Sullivans „Sweet Dreams“ bewegt sich denn auch ziemlich exakt zwischen „Inception“ und „The Cell“ – mit britischem Lower-Class-London Twist. Traum-Hacker wie die Erzählerin Charlotte sind so eine Art Clickworker-Proletariat der Big-Pharma-Konzerne und digitalen Plattformen. Die haben inzwischen (2027) sogar schon den Schlaf kolonisiert und machen mit Traum-Content Geld. Charlie, abgebrochene Psychologiestudentin, ist nach einem Medikamententest narkoleptisch und kann auf Zuruf einschlafen, was für ihren Job als Traum-Hacker ganz praktisch ist: Sie hilft Menschen, ihre wiederkehrenden Alp- und Angstträume zu „verlernen“. Etwa bei einer Lehrerin, die immer wieder träumt, nackt vor ihrer Klasse zu stehen. Oder bei einem Sadisten mit Folterträumen – mit alles in allem eher bescheidenem Erfolg.
Der Auftrag, eine berühmte Musikerin von wiederholten Alpträumen, in denen sie in den Selbstmord getrieben wird, zu kurieren, klingt dagegen nun wirklich traumhaft. Allerdings wird schnell klar, dass sich hinter den Nachtmahren der Musikerin etwas Größeres und Böseres verbirgt als ein individuelles Kindheitstrauma, das im Unterbewusstsein verbuddelt wurde. Eher ist das eine Verschwörung von globalem Ausmaß, in die Tech-Konzerne ebenso wie die hiesige Polizei verwickelt sind. So wird „Sweet Dreams“ flott zum scharf getakteten SF-Thriller, der von starken Bildern, cleveren „Noir“-Dialogen und schrägen Charakteren lebt. Schreit nach Verfilmung oder Serialisierung. Beste Unterhaltung mit Ideen drin.
Susanna Clarke – Piranesi (Bloomsbury)
Es ist eine durch und durch magische Welt, in der ein naiver Jüngling ohne Erinnerung ein Labyrinth einer offenbar endlosen, bis unter die Decke mit expressiven Statuen gefüllten klassizistischen Villa durchmisst. Allein auf die Binnenlogik der mal strengen, mal pittoresk verfallen Marmorhallen zurückgeworfen, lebt er von dem, was ihm das Haus in seiner umfassenden Freundlichkeit anbietet. Das sind vor allem Fische, Muscheln und Tang, die er in den unteren, von Meerwasser gefluteten Hallen erntet. Seine Sprache, sein Verständnis der Welt bewegt sich ausschließlich innerhalb der Möglichkeiten des Hauses, also dem, was er in den Statuengruppen abgebildet sieht, und was ihm sonst noch begegnet. Ein brütendes Albatros-Paar beispielsweise, dem er großzügig vom Seegras abgibt, um ein Nest zu bauen, oder die Knochen von exakt 13 Menschen.
Diese gleichermaßen immens-überwältigende und doch sehr limitierte Welt muss allerdings ein Außen haben. Denn es gibt noch den Anderen, der hin und wieder auftaucht, magische Rituale vollführt, aber auch Artefakte aus unserer Welt mitbringt. Sneaker, Streichhölzer, Plastikschüsseln. Der Andere nennt den Einen ironisch Piranesi, nach den Bildern des romantischen Ruinenkünstlers, nach dessen Bildern diese Welt in Stasis, diesem gefrorenen „Memory Palace“, modelliert scheint. Langsam, sehr langsam wacht der Eine auf und beginnt zu ahnen, dass sich hinter den wissenschaftlichen Experimenten des Anderen eigennützige wie finstere Motive verbergen. Zwangsläufig folgt die Erkenntnis, welche die Entzauberung der Welt und eine Dynamik, die den Einbruch einer weit düstereren Realität mit sich bringt. Aus einer geschlossenen, einer kompletten Eigenlogik folgenden Welt wird eine offene, gefährliche. Aus einer faszinierend entrückten Welt, die an Borges' Bibliothek von Babel, Raymond Roussels „Locus Solus oder auf Fantasy-Seite an Jack Vances „Dying Earth“ erinnert wird ein dunkler Ort, der eher nach Mervyn Peakes klaustrophobischem „Gormenghast“ kommt. Wie subtil Susanna Clarke das erzählt, und wie clever sie es auflöst, ist schlicht großartig. Auch wenn die Geschichte gegen Ende konventioneller wird: Es ist somit die grandioseste spekulative Fantasy, die man aktuell lesen kann.
Lauren Groff – Florida (Riverhead Books)
Landschaft prägt. Bis ins Innerste der Körper, in das Denken und Fühlen hinein. Die vor gut 100 Jahren im Buch „Fudo“ des Japaners Tetsuro Watsuo aufgestellte These könnte auch als Motto vor Lauren Groffs Kurzgeschichten-Sammlung „Florida“ stehen. Die tropenfeuchte modrige Hitze des sumpfigen Hinterlands, die immer präsente und latent gefährliche Natur (Schlangen, Alligatoren, Panther, Giftefeu, Stürme, Überschwemmungen) sorgt für das Hintergrundrauschen dieser brillanten Storys von alleinerziehenden Müttern, bindungsscheuen Singles oder Ehepaaren am oberen und unteren Rand der Gesellschaft. Professorinnen und Obdachlose, die in der drückenden Atmosphäre auf den Sturm warten, auf den Ausbruch der Gewalt, der unterschwelligen Bedrohungen – was nicht immer kommt. Groff erzählt in einem melancholischen bis elegischen Ton. Die Präzision ihrer Stimmen und Stimmungen erinnert an Joan Didion, die lakonische und doch konzentrierte Erzählweise an Lucia Berlin. So nahe kommen sich Natur und Mensch selten in diesen Tagen. Eine sinnliche wie smarte Chronik des Familienalltags im Anthropozän. Nur gut.