Pageturner: Literatur im November 2019Johny Pitts, Timo Daum und Yoko Ogawa
1.11.2019 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteWer schreibt, der bleibt. Das gilt vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist unser Pageturner. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Für den November dreht Eckert die ganz große Runde. Zunächst begibt er sich mit Johny Pitts auf eine Tour durch Europa. Der Brite erkundet in den Metropolen die schwarzen Communities und hört den Menschen einfach zu. So entsteht ein erhellendes Bild eines eher unbekannten Europas. Dann informiert er sich im neuen Buch unseres Autoren Timo Daum über die Zukunft des Autos und welche Rolle die alteingesessenen Konzerne im Digitalen Kapitalismus einnehmen könnten. Und schließlich liest er „The Memory Police“ von Yoko Ogawa. Die japanische Erfolgsautorin schrieb das Buch bereits 1994 – nun ist ihre Sozialdystopie, die vom Tagebuch der Anne Frank inspiriert ist, erstmals auf Englisch erschienen. In der Redaktion wird der Roman bereits als absolutes Highlight des literarischen Jahres gefeiert.
Johny Pitts – Afropean: Notes from Black Europe (2019)
Der Fotograf und Journalist Johny Pitts aus Sheffield, UK hat mit „Afropean“ eine Art praktisches aus konkreten Erfahrungen erwachsenes Gegenstück zu den eher theoretisch orientierten Abhandlungen über Schwarzes Leben geschrieben, die ich zuletzt gelesen und vorgestellt hatte. „Afropean: Notes from Black Europe“ ist als notwendig fragmentarische Bestandsaufnahme Schwarzen Lebens in Europa angelegt – und als Backpacker- Reisejournal. Pitts, „black, working class, and northerner“ in Margaret Thatchers England geboren ist kein Theoretiker und kein Migrant, also eher ein organischer Intellektueller und Gesellschaftsbeobachter von innen. Ein erst im Erwachsenenalter zum Kosmopoliten gewordener Brite, der Europa liebt, aber eben auch genau benennen kann, wo die Probleme liegen, die Europa mit „Fremden“ hat, und die fremd aussehende oder fremde Sprachen sprechende Einheimische in Europa haben. Für „Afropean“ hat Pitts eine Handvoll europäischer Metropolen besucht – ohne den sowieso unmöglichen Anspruch ein vollständiges Bild zu liefern – und mit Schwarzen und Weißen gesprochen, mit Einheimischen, Migranten, Alteingesessenen und Neuankömmlingen.
Es geht um Arbeit und Musik, um Armut und Rassismus, um Familie und Tradition, um Fremdheit und Nähe, um das heimisch werden (können/wollen) und dessen Unmöglichkeit. Die Gespräche sind so verschieden wie die Menschen, wie die Städte und Länder, in denen sie leben. So entsteht ein komplexes Bild, das weder pures Elend ist noch reine Multikulti-Idylle. Pitts Prämisse scheint zu sein, dass unkommentierte kleine Nebensätze und lakonischen Alltagsbeobachtungen mehr aussagen (oder genauer: potentiell mehr aussagen könnten) als ganze theoretische Abhandlungen. „Afropean“ stellt sich damit eher in die Tradition von privat-soziologischen Interviewbüchern als Reiseerzählung wie etwa von Studs Terkel oder Willam T. Vollmann. Mit Kommentaren und Interpretationen zu dem Gesagten ist Pitts dementsprechend zurückhaltend. Lieber setzt er die Dinge in historischen Kontext, erzählt die dahinterliegende Geschichte und verknüpft sie mit persönlichen Erfahrungen. Pitts liest Bücher, die schwarze Erfahrung in Städten vermitteln – zum Beispiel Francois Masperos auch heute noch lesenwertes „Roissy Express“ über die Pariser Banlieue. Und er hört die hiesige Musik. Von Grime über lokalen HipHop (inklusive dessen Aporien, wie das desillusionierende Konzert von Public Enemy, dem er in Amsterdam beiwohnt, wo ein Publikum aus 95 % weißen Mittvierziger-Mittleres-Management-Männern mit Plastikbecherbieren in der Hand die Fäuste reckt und „Fight The Power“ skandiert) zu Crossover „World Music“, wie die Brüsseler Combo Zap Mama. Deren Sängerin und Kopf Marie Daulne hat den Begriff „Afropean“ erfunden und geprägt. Solchen Spuren – literarischen, musikalischen, künstlerischen und lebensweltlichen – folgt Pitts durch ganz Europa. Da er zudem, nicht unähnlich dem geschätzten Teju Cole, ein diskreter wie hochintelligenter, dabei aber sehr melancholischer Beobachter, Chronist und Aufschreiber ist, ergibt „Afropean“, diese Mischung aus Reisejournalismus, Lokalgeschichte, Essay und Interviewsammlung, eine spannende Lektüre und einen erhellenden Sofa-Trip durch ein tendenziell unbekanntes Europa. Große Lesefreude macht es zudem.
Timo Daum – Das Auto im digitalen Kapitalismus (2019)
Wenn die großen Internetkonzerne Amazon, Google und Facebook die „neue“ disruptive Ökonomie der digitalen Plattformen repräsentieren, so dürfte das Auto, die Individualmotorisierung für den Industriekapitalismus alter Schule stehen. Doch auch die Automobilindustrie steht gerade vor einer wenige Jahre zuvor noch kaum vorstellbaren Umwälzung. Sie wird quasi zwangsläufig zu einer digitalen Platform „disruptiert“ oder verschwindet. Kein Zufall also, dass sich Timo Daum, Deutschlands kritischster Digital-Ökonomie Experte und „Das Filter“-Kolumnist für die Zukunft des Autos oder eher: die Zukunft der Mobilität interessiert. Denn die Industrien der Zukunft werden wohl weniger Mercedes oder BMW sein als Digitalkonzerne wie Waymo oder Alphabet – und die hier bislang noch praktisch unbekannten Big Player aus China.
Daum analysiert die verschiedenen Bausteine digitaler Mobilität, vom individuellen Elektrofahrzeug (eine notwendige Übergangstechnologie) und autonomen Fahrzeugen, Sharing-Plattformen mit alternativen Flottenmodellen, hin zu einem ganz neu gedachten ÖPNV, der viele dieser Aspekte vereint, elektrisch, digital, vernetzt und ökologisch verträglich sein könnte. Gegen wohlfeile Utopien technologischer Machbarkeit betrachtet Daum aber vor allem die politischen und mentalitätsbedingten Hindernisse und Rebound-Effekte. Wie etwa die deutlich angestiegene Effizienz von Verbrennungsmotoren nicht zu sparsameren und umweltverträglicheren Autos geführt hat sondern zum aktuell noch anhalten Boom immer größerer, leistungsfähiger und komfortablerer, also schwerer werdender SUVs. Trotz dem Kaptalismus im Titel und Unterstützung von der Rosa-Luxemburg Stiftung hält sich Daum was Kapitalismuskritik angeht auffallend zurück. Aber beim in Deutschland so hochemotionalen Thema Mobilität sind sachliche Argumente auch mehr als angebracht. Wo es hinfährt, gegen welche Wand, das Auto, das kann Daum nicht orakeln. Er hat allerdings interessante Hinweise gesammelt wo es hingehen könnte.
Yoko Ogawa - The Memory Police (2019, Original: 1994)
Von Yoko Ogawa, einer der renommiertesten zeitgenössischen Autorinnen Japans, sind deutlich mehr Bücher ins Deutsche übersetzt worden, als in Englische. Interessanterweise auch eine deutlich verschiedene Auswahl. Wo im Deutsche ihre kleinen leisen Außenseiterstories wie das wunderbare „Der Herr der kleinen Vögel“ vorliegen, waren es im Englischen eher ihre fantastischen, magisch realistischen Werke wie „The Isle“ oder „The Diving Pool“. Mit der Übersetzung ihres frühen Romans „The Memory Police“ wird sich das aber wohl ändern, denn dieser hat in England und den USA offenbar einen Nerv getroffen und wurde zum zeitgeistigen Text der Stunde. Völlig zurecht. „The Memory Police“ ist einer von Ogawas brillantesten Texten, ein echter Pageturner und ihr wohl politisch akutester. Es ist eine klassische Sozialdystopie im Sinne von „1984“ und „Fahrenheit 451“ und von der literarischen Klasse den Klassikern des Genres mindestens ebenbürtig. Zudem ist es – und in dieser Hinsicht ist die Übersetzung perfekt getimet – Ogawas Version des Tagebuchs der Anne Frank, welches dieses Jahr ebenfalls ein rundes trauriges Jubiläum feiert und erweitert neu aufgelegt wurde.
Auf einer nicht näher beschriebenen Insel, die Hokkaido sein könnte, Ogawa-typisch jedoch fast ohne japanspezifische Markierungen auskommt, herrscht ein kultur- und intellektuellenfeindliches autoritäres Regime mit faschistischen wie stalinistischen Charakterzügen, das offenbar wahllos unliebsame Dinge, Tiere, Pflanzen (z.B. Hüte, Rosen, Vögel als Haustiere) verschwinden lässt. Ebenso genetisch „unpassende“ oder politisch unbequeme Menschen. Dass das Verschwundene auch verschwunden bleibt, dafür sorgt die titelgebende „Memory Police“, die sämtliche schriftliche und bildliche Aufzeichnungen und Erinnerungen and die/das Verschwundene(n) vernichtet. Die Erzählerin der Geschichte ist Autorin, dem Regime der Insel also unnütz geworden, lebt ein Leben in dem das Nicht-Auffallen zur Hauptaufgabe geworden ist. Als ihr einziger Intellektuellen-Freund und ehemaliger Verleger und Regimekritiker in das Blickfeld der Memory Police gerät und droht ebenfalls zu verschwinden, beschließt sie ihn in ihrem Haus zu verstecken. Dazu erzählt das Buch von dem Versuch der Protagonistin ein Buch zu schreiben, dass der massiven Zensur genügt und sie gleichzeitig unterläuft. Ein Buch, das versucht, Erinnerung in und durch ihre Auslöschung am Leben zu erhalten. Was solange gut geht bis auch Romane, Bücher verschwinden müssen. Bevor sich aber das bekannt tragische Ende entfaltet, wendet Ogawa ihre Geschichte ins absurde fantastische (aber nicht weniger beunruhigende).
Yoko Ogawa hat das seltene Talent noch die ultimativ deprimierendste Geschichte in etwas tragisch-melancholisch Schönes verwandeln zu können. Eine Qualität, die all ihre Bücher teilen. Aber so heftig wie in „The Memory Police“ ist sie sonst nicht gelungen.