Pageturner – Literatur im November 2022N.K. Jemisin, Leone Ross, Timothy D. Taylor
1.11.2022 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteEs lebe das inhaltliche Assoziationsvermögen. Frank Eckert beginnt seinen novembrigen Literaturrundumschlag mit N.K. Jemisins „Die Wächterinnen von New York“, einem Stück urbaner Fantasy, in dem die Metropole fünf Wächterinnen bestimmt, die über die Stadt wachen und sie prägen. Die Geschichte startet im Chaos. Chaotisch und einigermaßen surreal geht es auch auf Popisho zu. Leone Ross erzählt in ihrem gleichnamigen Roman abstruse Geschichten von einer erfundenen Karibik-Insel, die literarisch so fließen wie ein Dub-Soundsystem klingt. Und wenn wir schon bei der Musik sind: Timothy D. Taylor analysierte 2016 in „Music and Capitalism“ die Ökonomie der Beats und Sounds. Dass seitdem alles nur noch schlimmer geworden ist, scheint klar. Doch Taylors Ansatz ist so speziell, dass kein Verfallsdatum greift.
N.K. Jemisin – The City We Became (Orbit, 2020)
Die Intuition, dass Metropolen eine Art von Persönlichkeit besitzen, einen je eigenen Charakter, der die Stadt über die Summe ihrer Einzelteile (Bewohner:innen, Architektur, Infrastruktur, Restnatur) hinaus wiedererkennbar und einzigartig macht, diese Variante gefühlter Wahrheit ist nicht unbedingt exotisch oder selten. Die New Yorker, oder besser Brooklyner Fantasy-Autorin N.K. Jemisin hat diesen Gedanken nun in die Konsequenz getrieben, dass die Städte sich dann auch einen Avatar suchen. Einen Menschen mit speziellen Fähigkeiten, der diese übergeordnete Gesamtheit repräsentiert, Kraft aus ihr zieht und sie entsprechend energisch vertritt.
Im Falle von New York City sind es sogar sechs Vertreterinnen, eine für die Gesamtheit und je eine für jeden der Five Boroughs mit je archetypischen Eigenschaften. Von „Manny“ Manhattan, jung, reich, zugezogen, ambitioniert und gewaltbereit, ohne Gedächtnis an sein früheres Leben, über die migrantisch, queeren und nichtweißen Queens, Brooklyn und Bronx bis hin zur notorisch übersehenen Polizistentochter aus Staten Island. Da der Charakter einer Stadt dynamisch ist, werden auch ihre Avatare immer wieder neu belegt.
In einer solchen kritischen Geburtsphase, in der die Stadt und ihre Avatare noch unerfahren und verletzlich sind, befindet sich New York City gerade, als ein alter / neuer Antagonist versucht, die Stadt zu übernehmen. Wahlweise manifestiert als Lovecraft'sche Tentakel aus der Tiefe oder als weißgekleidete weißhaarige Frau, versucht eine diffuse, aber extrem zielgerichtete Kraft die Kontrolle zu übernehmen und die Stadt und ihre Bürger unter den eigenen Prämissen neu zu ordnen. Eine Art Mischung aus Agenten neoliberaler Gentrifizierung und autoritär-populistischer Politik von Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Frauenverachtung, also all den so gar nicht bezaubernden Eigenschaften des H.P. Lovecraft und seiner Romanfiguren.
Klassische Superheldenstory mit der ebenso klassischen Aussage, dass das Böse nur besiegt werden kann, wenn alle Held:innen zusammenhalten und ihre eigenen Zweifel, Ängste und Sorgen hintan stellen. So weit, so schematisch. Es ist also definitiv nicht eine psychologische Subtilität, die den Roman ansprechend, sondern wie so oft das „Wie“ der Erzählung herausragend macht. Jemisin erzählt langsam, farbsatt und detailreich – mit und in einem Lokalkolorit, das sehr gut verstanden hat, dass die Mythen und Zuschreibungen, das touristische Außenbild für eine Stadt nicht weniger wichtig ist als alle „inneren“ Eigenschaften. Eine (oder eventuell sogar mehrere) Fortsetzungen sind angekündigt. Ich bin gespannt.
Leone Ross – Popisho (Farrar, Straus, and Giroux, 2021)
Magischer Hyper-Irrealismus? Gibt es das? Nun, wenn es so etwas geben könnte, kommt der in so ziemlich jeder Hinsicht überbordende Roman „Popisho“ der schottischen Jamaikanerin (oder umgekehrt) Leone Ross dem schon sehr nahe. Auf dem mythischen, aber reichlich karibisch anmutenden Eiland Popisho werden jedenfalls Geschichten in Überfülle gefischt.
Wie die von Xavier Redchoose, der so vieles verloren, aber die Gabe der Götter erhalten hat, jedem Essen einen perfekten Geschmack geben zu können. Diese Gabe kommt mit der Verpflichtung einher, jedem/r Bewohner:in der Insel einmal solch ein perfektes Essen gekocht zu haben. Daran hindert ihn allerdings die Trauer um seine ertrunkene Ehefrau, eine Substanzabhängigkeit in Form von psychotropen Motten und der Auftrag des selbstherrlichen wie korrupten Gouverneurs der Insel, die Hochzeit von dessen Tochter auszurichten. Und das wo er nicht mal am Tag des Begräbnisses seiner Frau das Restaurant mit dem schönen Namen „Torn Poem“ schließen wollte. Den vierhundertdreizehnten „Macaenus“ zu verkörpern, ist ja schließlich eine existenzielle und lebenslange Verpflichtung.
Entlang dieser und zwei, drei weiterer Hauptstränge wurzelt und rhizomiert sich „Popisho“ noch in zahllose locker miteinander verflochtene Sub-Erzählungen. Die sind gerne absurd, immer mehr oder weniger fantastisch und auch mal abgefahren bis dort hinaus. Es geht also weniger darum, etwas zu durchschauen und zu dekodieren, sondern sich dem Flow hinzugeben. Und der ist tatsächlich mitreißend-sinnlich, derbe, auch brutal. Karibisch gewendet: ein gewaltiges Dub-Soundsystem am Strand zum Sonnenuntergang.
Timothy D. Taylor – Music and Capitalism (The University of Chicago Press, 2016)
Das gibt es nicht so oft: eine dezidiert adornitische Studie über das Musikbusiness. Wobei sich der US-amerikanische Ethnomusikologe (nicht Musikethnologe) T. D. Taylor sich in seiner Fortschreibung entschieden nicht auf Adornos Ästhetik der Neuen Musik bezieht, sogar generell nicht auf Ästhetik oder musikalische Inhalte, sondern auf die Produktionsmittel von Musik im Zusammenhang mit Digitalisierung (kurz vor TikTok) und Globalisierung (kurz vor K-Pop). Das ist tatsächlich dann spannend und Taylors gewählten Theoriewerkzeugen von Adorno und Bourdieu angemessen, wenn es um die ökonomischen Realitäten der Musikproduktion und -distribution geht. Wer wann was und wieviel vom Kuchen abbekommt (und warum) und was neoliberale Ökonomie mit Identitätspolitik zu tun hat (alles?!) – das sind auch für Nicht-Ökonom:innen interessante bis existentielle Fragen. Nicht zuletzt, weil Taylor letztlich doch deutlich woanders ankommt als Adorno oder Bourdieu.