Pageturner – Literatur im Mai 2022Stina Leicht, Jeff Vandermeer, Marlon James
4.5.2022 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteBücher, Texte, Geschichten. Das sind Deep-Dives ohne Marketing-Konnotation und auch keine Longreads mit Like-Clickbait. Wer schreibt, der bleibt. Frank Eckert ist der Pageturner der Filter-Redaktion und inhaliert Monat für Monat zahllose Bücher. Ob dringliche Analysen zum Zeitgeschehen oder belletristische Entdeckungen – relevant sind die Werke immer. Für den Wonnemonat Mai bucht unser Autor einen Platz im SUV-Raumschiff von Stina Leicht, besetzt die Verfilmung von Jeff Vandermeers Öko-Noir-Thriller und verliert sich im zweiten Teil von Marlon James' „Dark Star“-Trilogie. Zwischen Hard-SciFi, katastrophischen Todesfällen und komplexer Fantasy turnen wir Page für Page.
Stina Leicht – Persephone Station (Saga Press)
Die „Persephone Station“ der US-amerikanischen Autorin Stina Leicht ist ein 500 Seiten starkes SUV-Raumschiff, in dem ungefähr so alles vorkommt was das spekulative Genre des Hard-SF zu bieten hat. Von fremden Planeten, Aliens und Raumstationen über Künstliche Intelligenz zu Gentechnik, Bewusstseins-Upload, ewigem Leben und vieles mehr. Eine Pastiche von guten Söldnern und bösen Corporations, aus Serenity/Firefly, aus den Star-Wars-Welten (vor allem The Mandalorian), aus dem Star-Trek-Universum (vor allem Deep Space Nine) plus Blade Runner. Kann das wirklich was taugen?
Darauf ein energisches „aber hallo!“ Wenn es nämlich so schnell getaktet und gut konstruiert ist, wenn es liebenswerte und nicht zu eindimensionale Charaktere besitzt, wie sie hier geboten werden, dann allemal. Aber die gut knallende Unterhaltung ist nicht alles, der Roman hat auch spekulative Qualitäten, die ihn über den Durchschnitt des Space Western heben. Da ist einmal die Selbstverständlichkeit von gender- und auch sonst ambivalenten Charakteren, den Bechdel-Test besteht der Roman jedenfalls mit Bravour. Ebenso erfreulich die Beiläufigkeit, mit der interessante Variationen bekannter Ideen und Spekulationen hier gedroppt werden und übliche Annahmen (wie etwa, dass eine überlegene KI zwingend auch die Weltherrschaft übernehmen und die Menschheit ausrotten will). Kein Mansplainer und kein Dietmar-Dath-Erklärbär weit und breit. Selbst wenn es für meinen Geschmack zu viel Geballer gibt, vor allem gegen Ende, funktioniert die kalkulierte Emotion hier einfach bestens und schon mal viel besser als nur Technik.
Jeff Vandermeer – Hummingbird Salamander (MCD/Farrar, Straus & Giroux)
OK, ich hatte mir von Jeff Vandermeer schon ein bisschen erhofft, dass er die faszinierend-bunt und toxisch-schillernde Bio-Tech-Fantasy von „Borne“ weiterspinnen würde. Stattdessen gibt es nun einen eher straighten Öko-Noir-Thriller. Auch nicht verkehrt. In der Sprache, im generellen Stil, den Suspense und Red-Herring-Strategien klar an die amerikanischen Genrewerke der Mitte des 20. Jahrhunderts angelehnt dreht Vandermeer das Heldenschema auf den Kopf: Kein wortkarg raubeiniger „Private Eye“ steht hier im Zentrum, sondern eine übergewichtige Soccer-Mom aus einer Vorstadt im pazifischen Westen der USA. Aber immerhin – soviel Zugeständnis ans Genre muss schon sein – eine, die im mittleren Management einer Security-Firma in Sachen Cyberkriminalität arbeitet.
Sie bekommt eines unspektakulären Tages im Café einen kryptischen Brief mit einem Schlüssel darin zugesteckt. Dieser führt, nach einer ausladenden Schnitzeljagd/Recherche, zu einem ausgestopften Exemplar zweier jüngst ausgestorbener Spezies, Kolibri und Salamander des Titels. Zu einer ebenfalls toten unglücklichen Milliardenerbin, Klimaaktivistin und womöglich Bioterroristin. Zu einer ehemaligen Künstlerkommune im 70er-Utopie-Stil. Zu undurchsichtigen Vollstreckern und granteligen Taxidermisten – immer begleitet von mehr oder minder mysteriösen Todesfällen – und einem sich offenbar rapide beschleunigenden Klimawandel, der im Laufe der Erzählung katastrophische, ja beinahe apokalyptische Folgen zeitigt.
Auch klar, dass das alles irgendwie zusammenhängt. Wie es das dann tut, löst Vandermeer mit wenig Spekulation (fast) ohne Mystery auf. Es ist selbstverständlich sehr gekonnt und in satten Farben erzählt. Tolle Szenerien konnte Vandermeer schon immer. Es ist aber vor allem von einer interessanten und durchaus ambivalenten Protagonistin getragen. Falls der Roman verfilmt oder zur Miniserie gemacht wird, was bei der Erzählweise naheliegt, dann bitte unbedingt mit Gwendoline Christie in der Hauptrolle.
Marlon James – Moon Witch, Spider King (Riverhead Books)
Die nicht geringe Ambition der „Dark Star“-Trilogie des jamaikanischen Autors Marlon James ist es, epische Fantasy noch einmal neu zu erfinden, zeitgemäß wie archaisch und global – doch in (pan)afrikanischen Märchen, Mythen und Traditionen verwurzelt. Im ersten Teil „Black Leopard, Red Wolf“ gelang dies schwerstens beeindruckend, aber nur unter größten Mühen seitens der Leser:innen. Zu schroff und abweisend, brutal und testosteronlastig die Story, zu komplex und verschachtelt die Erzählweise. Zu viele Spuren, die sich ohne Erklärung einfach verlieren.
Das ist tendenziell ein grundsätzliches Problem weltenbildender Fantasy, abrupt in eine geschlossene und vollständige Welt geworfen zu werden. Ohne Erklärung, ohne Hilfe (wobei es gibt schon genrekonform Karten und einen Namensindex, die auch bitter nötig sind). Also eine ganze eigenlogische Welt, in der man sich erstmal orientieren muss. James bot dabei im ersten Teil eher wenig Identifikation und Hilfe an. Zudem spielte sich der erste Teil in einer extrem brutalen Gesellschaft von Söldnern, Kopfgeldjägern und Sklavenhaltern ab, unter Menschen, Tieren, Wesen und Göttern, die ein tief frauenverachtendes und queerfeindliches Weltbild verinnerlicht haben. Das ist in „Moon Witch, Spider King“ nicht wirklich verschieden, fühlt sich aber doch deutlich anders an. Es ist linear(er) erzählt aus der Perspektive der im ersten Teil gefürchteten und blutig bekämpften „Moon Witch“, die hier in Rückblicken ihre eigene (superfinstere) Geschichte erzählt. Eine, die tatsächlich deutlich interessanter ist als die Suche nach dem Ring (ach nein, Königssohn) sie alle zu knechten. Im zweiten Teil geht es mitunter ebenso blutig zu, doch um deutlich subtilere Machtkonstellationen, um Zugang zu Wissen und um sozialisierte Gewalt. Die eigentliche Handlung, der „Quest“, wird dabei nicht wesentlich vorangetrieben, sondern komplexer gemacht und die Motivationen und Motive vertieft. Auch darin ein typischer Trilogie-Mittelteil und vermutlich der beste „Dark Star“. Aber James überrascht ja immer wieder.