Pageturner – Literatur im Mai 2021Nora Eckert, Yoko Tawada, Anne Weber
3.5.2021 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteWer schreibt, der bleibt. Vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist der Pageturner und versorgt uns jeden Monat mit Reviews seiner literarischen Fundstücke. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Im Mai geht um Romane von Nora Eckert und Yoko Tawada, sowie um eine in Versform verfasste Biografie über Anne Beaumanoir. Wir pendeln zwischen West-Berlin in den 1970er-Jahren, der Literaturwissenschaft und dem faszinierenden Leben der Resistance-Frau Anne Beaumanoir.
Nora Eckert – Wie alle, nur anders (C.H. Beck)
Die Memoiren der Transfrau Nora Eckert (mit dem Pageturner nicht verwandt) sind ebenso gut auch die Memoiren von Berlin-West, dieser Mauer-geschützten, wehrdienstbefreiten Subkultur-Insel der Siebziger- und Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts. So beginnt die Lebenserzählung der Nora Eckert nicht in den westdeutschen Provinzmittelstädten ihrer Kindheit und Jugend, sondern mit der Ankunft in West-Berlin 1973. Die Wahl dieses Zufluchtsortes ist nicht zufällig, hatte die Stadt doch damals noch ein Residuum der wilden Zwanziger konserviert, das Versprechen, dass all die schrägen Vögel, die anderswo nicht hineinpassen, nicht dazugehören hier zu Hause sein können und dürfen.
Dazu kommt ein Charakterzug der Berliner*innen, der sich als so etwas wie produktive Gleichgültigkeit bezeichnen lässt. Außenseiter, die aus dem Raster gefallenen, die Verhaltens- oder auch sonst Auffälligen, werden hier nicht angefeindet, kontrolliert oder gar Gewalt und Verfolgung ausgesetzt, sondern schlicht ignoriert. Eine Qualität, die etwa die nichtbinäre House-Produzent*in Terre Thaemlitz (DJ Sprinkles) aus dem Mittleren Westen der USA über New York nach Tokyo/Kawasaki führte: die unglaubliche Erleichterung, das darzustellen und sein zu können, was man ist und den Leuten ist es einfach egal. Denn noch immer bestehen die Möglichkeiten eines generellen Andersseins jenseits der etablierten bürgerlichen und geschlechtlichen Normen nur temporär und an spezifischen Orten in spezifischen subkulturellen Nischen. Vor 40 Jahren war Berlin-Kreuzberg so ein Möglichkeitsraum.
Nora Eckert betont in diesem Zusammenhang erfreulicherweise die Rolle der in den Siebzigern aufkommenden Clubkulturen – vor allem Disco – als Safe Space, als Zufluchtsort vor der Dominanz heterosexueller weißer Männer. Etwas das trotz aller Kommerzialisierung und entgegen aller menschlichen und emotionalen Abgründe, die solche „Heterotopien“ üblicherweise mit sich bringen. Das Kino mit aktuellen Kunstfilmen zu den Revue-Klassiker von Busby Berkeley war ein ähnlicher Ort.
Dennoch war das Nachtleben mit mindestens ebenso vielen Zwängen wie Freiheiten verbunden. Denn damals gab es – von Sexarbeit abgesehen – für sichtbar queere Menschen kaum eine andere Möglichkeit, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Nische war und ist also ganz schön eng. Weswegen bis heute das „Passing“, die eindeutige Zuordnung zu einem Geschlecht, Fluch und Segen der Trans-Community blieb. Was die Gesellschaft verunsichert, ist die Uneindeutigkeit, nicht die Trans-Identität als solche. Das betont Eckert immer wieder. Ihr Buch hat nicht die analytische kritische Schärfe etwa der Arbeiten von Beatriz/Paul Preciado, es ist mehr ein praktisch und persönlich gehaltenes Komplement zu Preciado und Thaemlitz. Es vermittelt auf empathische Weise was es bedeutet, nicht-binär in einer binär gepolten Umgebung zu sein. Die sympathische Heldin verkörpert das auf unmittelbar verständliche, mitfühlbare Weise.
Yoko Tawada – Paul Celan und der chinesische Engel (Konkursbuch)
Wie ist das eigentlich? Was passiert, wenn einem die Menschen plötzlich unzugänglich und fremd werden? Oder wenn das mit der Sprache passiert? Letzteres ist eines der immer wiederkehrenden Themen der japanische Autorin Yoko Tawada, die seit knapp 40 Jahren in Deutschland lebt – erst in Hamburg und jüngst in Berlin. Für ihren Protagonisten Patrik (ohne „c“), der sich selbst nur halbironisch „der Patient“ nennt, ist die Seltsamkeit der Worte ein Symptom für sein Unbehagen in der Welt, mit den Menschen und seinem eigenen Körper. Der eher ambitionslose Literaturforscher mit halber Stelle und Schwerpunkt Paul Celan ist auf dem besten Wege, sich selbst, seine Freundin und seinen Platz in der Welt zu verlieren, als er von einem „transtibetanischen“ jungen Mann angesprochen wird. Und weil sie endlich beide von all den seltsamen und unheimlich gewordenen Wörtern, Celans wie ihren eigenen, sprechen können, entwickelt sich aus der Begegnung eine tiefe intellektuelle wie psychoanalytische Freundschaft.
In ihren traumartig verlaufenden Gesprächen geht es um chinesische Medizin, Herkunft, Zugehörigkeit, um Literatur und Poesie, um Celan, Ingeborg Bachmann, Nelly Sachs und andere in der deutschen Sprache beheimatete, die doch permanente Fremde in ihr waren. Es geht um Freundschaft und das Nachleben der Wörter – um die Schatzkammer der Körperwörter, wie sie Celan zur Verfügung stellt. Sprache ist aber eben nicht nur Abgrund, in den man angstlustvoll hinein starren muss. Sie ist auch Rettung und Freund. Um das tief zu verstehen, muss man vielleicht von außen hineinblicken, so fremd und doch einheimisch sein wie Yoko Tawada. Ihre brillanten Romane zeigen das immer wieder aufs Neue.
Anne Weber – Annette, ein Heldinnenepos (Matthes & Seitz)
Eine Art Biografie der Annette genannten Anne Beaumanoir. Sie war und ist Ärztin, Marxistin, Resistance-Kämpferin, Mutter, Aktivistin gegen Folter, wurde in Frankreich einige Zeit per Haftbefehl gesucht wegen ihrer medizinischen Hilfsaktionen in Algerien. Heute ist sie 97 und eine echte Heldin in der Tat. Der Text hat den deutschen Buchpreis gewonnen. Sehr zurecht, denn was die deutsche, schon lange in Paris lebende Autorin und Übersetzerin Anne Weber aus dem an sich schon faszinierenden, spannenden und dankbaren Stoff der Biografie macht, ist schlicht grandios.
Das Buch ist tatsächlich ein Epos im antiken Sinn, eine Heldinnenerzählung in Versform, im Präsens aber im fliegenden Wechsel zwischen Metaebenen und Zeiten. Wobei die Versform von Weber frei interpretiert wird als rhythmisierte Sprache, als doppeltes Wechselspiel von archaischer Form und modernem Inhalt und umgekehrt als mythische Heroinnengeschichte mit HipHop-Flow. Die Sprache ist unglaublich kraftvoll und konzentriert, aber doch verspielt genug, um den Text schnell (eventuell sogar zu schnell) wegzulesen, einfach weil der Fluss stimmt und auch die Brüche und Stilwechsel perfekt sitzen und immer Sinn machen.