Pageturner – Literatur im März 2022Noah Hawley, Chana Porter, Tochi Onyebuchi
2.3.2022 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteEin neuer Monat, frische Buch-Empfehlungen. Frank Eckert ist der Pageturner der Filter-Redaktion. Ob dringliche Analysen zum Zeitgeschehen oder belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Das Frühjahr beginnt wieder einmal mit dystopischen und surrealen Entwürfen – passend zum Zeitgeschehen. Noah Hawley beschreibt in „Anthem“ eine neue Seuche ganz ohne Virus. Chana Porter imaginiert Aliens, die sich für die menschliche Spezies interessieren. Und Tochi Onyebuchi vermengt in „Riot Baby“ ethnisch-bedingte Ungerechtigkeiten mit den Troubles von Superheld:innen.
Noah Hawley – Anthem (Hodder & Stoughton)
Fünf Jahre nach der Covid-19-Pandemie, einmal mehr ist es der heißeste Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnung, greift eine neue Seuche um sich. Viral, aber nicht von Viren verursacht. Tödlicher als jeder Erreger es könnte, ist es eine globale Welle an Selbstmorden von Teenagern und jungen Erwachsenen, die die Welt im Griff hält – einhergehend mit kryptischen Memes und elternunverständlichen Suicide Notes. Sind es die Spätfolgen der sozialen Isolation in den Lockdowns? Die allseits explosiv vermehrten Opioid-Abhängigkeiten, psychologische Folge eines Aufwachsens in den sozialen Medien, im Internet? Oder finales Eingeständnis der Solastalgie, der Wirkungen des Stresses menschengemachter Umweltzerstörung und Klimawandel?
Ein paar Teenager in einem Rehab-Spa für die beschädigt-depressiven Kinder genau der Superreichen, die die Misere zumindest mitverantworten, begehren dagegen auf und begeben sich auf eine Mission (irgendwas zwischen Open World Gaming und American Gods), um die Welt zu retten von und vor den Erwachsenen. Oder zumindest sich selbst und das Wenige, das von ihrer Jugend noch übrig ist, das nicht von permanenten Angstzuständen und Panikattacken aufgefressen wurde.
Der Autor und TV-Showrunner (Fargo, Bones) Noah Hawley packt so einiges an aktuellen US-amerikanischen Befindlichkeiten, vom Anthropozän zu „Red Pill“-Trollkultur in das saftige kühl knallende „Anthem“. Die wohlstandsverwahrlosten, langsam aus ihrem zynischen Selbst- und Welthass aufwachenden Jugendlichen sind sympathisch, aber nicht naiv, von anti-naivem Sarkasmus gezeichnet, der sie erst spät handeln lässt. Allzuviel Hoffnung und gute Laune wird nicht verbreitet, aber Kurswechsel – wenn nicht schon Rettung auf manchen Ebenen – scheint zumindest nicht komplett abwegig. Dass so etwas nicht immer subtil daherkommt, ist naheliegend. Aber subtil oder zurückhalten waren die mehr als einmal angespielten „Wizard of Oz“, „Fight Club“ und Stephen King auch nicht unbedingt.
Chana Porter – The Seep (Soho Press)
Was wäre eigentlich los, wenn die große Alien-Invasion nicht kommen würde, um die Menschheit zu vernichten oder zu versklaven, sondern um von ihr zu lernen? Um als kognitiv und technologisch ultimativ überlegene kollektive Amöben-Spezies zu verstehen, was es bedeutet, einen individuellen Körper und eine separate Identität zu haben? Und die Invasion die kolonisierten Menschen dabei deutlich gesünder und freier (zum Beispiel von Lohnarbeit) macht, dazu noch etwas glücklicher, empathischer, vernünftiger und weniger gewalttätig? Mit der Option auf ewige Jugend und beinahe grenzenlose Körper- und Geistesmodifikationen, inklusive spiritueller und körperlicher Highs?
Wenn die formlosen Aliens, die eine Art Fluid (das titelgebende „The Seep“) aus konzentrierter viraler Information darstellen, die auf zellulärer Ebene den Körper und auf neuronaler das Denken verändern können, potentiell verbessern: Hält die menschliche Natur – was immer das auch sein mag – das aus? Klassische Fragen der Science Fiction wie der Philosophie.
Das spekulative Debüt der US-amerikanischen Theaterautorin Chana Porter spielt dieses Szenario mit einem Personal durch, das sich mit Körperpolitik, Ausgrenzung und fluider Identität zwangsläufig etwas besser auskennt als der Mainstream, weil queer, trans, nichtweiß. Und die Traumata, die durch diese Körper gegangen sind, kann nicht mal das harmonisierende heilende Seep vollständig beheben, obwohl das Seep allen den Körper geben kann, den sie sich vorstellen. Doch diese Wunsch- und Wahlfreiheit führt nicht zwingend zu Angstfreiheit, die Option praktisch endloser Selbstverwirklichung bleibt nicht ohne Irritationen. Wenn etwa die große Liebe der zentralen Protagonistin ihr altes noch von Kindheitstraumata und Gewalt gezeichnetes Leben hinter sich lassen will und als Baby – ohne Sprache und ohne Erinnerung – nochmal neu anfängt. Und was passiert, wenn man sich nicht optimieren will, kein besserer, gesünderer, glücklicher und freier Mensch werden will, sondern in Trauer, Einsamkeit und dem eigenen Körper verharren? Sich für Selbstzerstörung entscheidet? Möglich ist sogar das. Jede Art von Exzentrik und Extravaganz wird vom Seep unterstützt. Ärger machen eher die auf Übererfüllung der Glücksversprechen beharrenden Spießer-Nachbarn.
Die Frage ist also vielmehr, ob diese inklusive, nachhaltige wie grüne Post-Scarcity-Gesellschaft, von der linke Utopisten ebenso träumen wie neoliberale kalifornische Ideologen, wirklich lebbar wäre – von uns unperfekten Menschen. Bei aller gebotenen ironischen Distanz (die Porter definitiv anbietet, das Seep kommuniziert manchmal in Phrasen die eins-zu-eins aus einem Selbsthilfebuch oder Management-Seminar stammen könnten) ist Porters Antwort doch durchaus optimistisch, was die Fähigkeit der Menschheit angeht, eventuell doch irgendwann auch mal etwas richtig zu machen. Warum ist es denn so schwierig weiterzuleben, überhaupt zu leben? Chana Porters hoffnungsvoller wunderschöner, wundervoller wie brillanter Roman gibt eine komplexe Antwort – und eine einfache: „Enjoy life. Because even with the promise of forever, nothings lasts.“
Tochi Onyebuchi – Riot Baby (TOR)
Kev, das „Riot Baby“, wird mitten im Chaos von Gang-Gewalt, Polizeigewalt, Demonstrationen und Ausschreitungen geboren. Es ist L.A. South Central zwischen Compton und Inglewood, kurz nachdem das Rodney-King-Video publik wurde. Doch auch ein Umzug nach Harlem, New York verbessert die Lage kaum. Die Armut bleibt, der Rassismus, die Behördenwillkür, die Atmosphäre von Aggression und Gewalt, sie bringen Kev in das Gefängnissystem der USA. Mehr Schmerz, mehr Gewalt, mehr Hoffnungslosigkeit.
Was am wenigsten hilft, sind die unglaublichen Comic-Superheldenfähigkeiten der Schwester Ella. Sie kann in die Zukunft sehen, Gedanken lesen, Astralreisen (immerhin eine Möglichkeit, um mit dem Bruder in Kontakt zu bleiben) und potentiell per Telekinese ganze Häuserblocks in Schutt und Asche legen. Doch was nützen diese Fähigkeiten, wenn man statt die Welt vor Superbösewichten retten zu müssen nicht mal für den eigenen Bruder sorgen kann? Zumal jeder Einsatz der Kräfte die Misere nur zu vergrößern scheint und auch gegen strukturellen Rassismus wenig ausrichten kann.
Der spekulative Roman des Jugendbuchautors Tochi Onyebuchi dreht die übliche Superheldencomic-Erzählung vom unterschätzten/traumatisierten Underdog/Nerd/Loser mit Weltrettungspower auf links, stellt vor allem erst mal die Unfähigkeit des Superheroes heraus, am System etwas zu ändern, eine bleibende Verbesserung zu erreichen. Vielleicht ist das ja die traurige Wahrheit dieser Figuren – selbst der fortschrittlicheren von Wonder Woman, Jessica Jones und den Black Panthers zu manchen X-Men-Ablegern –, dass sie immer in individuellen Konflikten verfangen bleiben, selbst wenn diese im globalen oder gar kosmischen Maßstab ausgetragen werden. Die Gewalt bleibt. Das Gefängnissystem bleibt. Der Rassismus bleibt. Die Benachteiligung bleibt. All das wird allenfalls einem technischen Update unterzogen. Onyebuchi ist ein zurecht zorniger Kommentator der Verhältnisse in den USA. Doch sein schneller, harter im Rhythmus des Gangsta-Rap vibrierender Roman gibt auch Hoffnung, irreal und utopisch, ja. Aber dennoch Hoffnung.