Pageturner: Literatur im März 2020David Rothenberg, Alan Licht, David Toop

pageturner kolumne maerz 2020

Wer schreibt, der bleibt. Vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist der Pageturner und versorgt uns jeden Monat mit Reviews seiner literarischen Fundstücke. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Dieses Mal geht es um Sound im Allgemeinen und Sound Art im Besonderen. Die Reise beginnt in der Hauptstadt der Nachtigall – Berlin! – und David Rothenbergs Beobachtungen und Schlussfolgerungen zur musikalischen Tragweite der Singvögel. Derweil wirft Alan Licht einen historisch-detaillierten Blick auf die Klangkunst als solche. Und David Toop hat in seinem Archiv gestöbert – und fördert allerhand zum prekären Verhältnis von Hörer und Musiker, Musik und Sound, Struktur und Rauschen, Leere und Semantik zu Tage.

Pageturner - David Rothenberg – Nightingales in Berlin

Nightingales In Berlin (Affiliate-Link)

David Rothenberg – Nightingales in Berlin (University of Chicago Press)

Die Hauptstadt der Nachtigallen – was ihre schiere Anzahl, aber auch die Qualität ihrer Lieder angeht – ist erstaunlicherweise Berlin. Was den US-amerikanischen Klangforscher David Rothenberg veranlasste, seinen Stipendiumsaufenthalt in der Stadt den Liedern der kleinen unscheinbaren Zugvögel zu widmen. Das Faszinierende am Gesang dieser Vögel ist unter anderem, dass die Sangeskunst nicht wie den meisten anderen Tieren angeboren und evolutionär verfeinert, sondern komplett „from scratch“ erlernt ist, von jedem männlichen Exemplar der Gattung Luscinia aufs Neue – und zwar vor allem durch die Wechselwirkung mit der unmittelbaren Umgebung, den anderen Rossignolen im Revier, aber ebenso auch Umweltgeräuschen. Das eröffnet interessante Perspektiven für menschliche Musiker*innen, die sich in den vergangenen Jahren in nicht unbeträchtlicher Zahl unter den Standortbäumen und Sträuchern der Nachtigallen nächtens versammeln und mit deren Gesängen musikalisch interagieren (Rothenberg etwa ist Klarinettist) oder zum Entsetzen der universitären Vogelkundler vor Ort ihnen elektronisch verfremdete, zerhackte Samples ihres eigenen Gesangs vorspielen. Immer auf der Suche nach „Sharawaji“, der Perfektion des Imperfekten, Flüchtigen, wie es das dem japanischen entlehnte Kunstwort umschreibt. Forcierte Missverständnisse der beidseitigen Improvisation zwischen Mensch und Vogel, deren souveräner Meister aber immer der Vogel bleibt.

Rothenberg erzählt von den Freuden und Freund*innen des Natursounds, nicht nur der Bülbüls, von Ovid bis Sound Art, von Klangökologie, Evolutionsbiologie und Big-Data-Analysen ihrer Lieder. Es lässt sich viel lernen über die komischen Vögel, unter denen es organisierte Komponisten genauso wie Free Jazzer gibt, und ihren Menschen. Ein spannender Reisebericht aus den Grenzgebieten von Naturwissenschaft und Ästhetik. Rothenbergs ultimatives Anliegen: Alles kann Musik werden. Wer wagt es zu hören?

Pageturner Alan Licht – Sound Art Revisited

Sound Art Revisited (Affiliate-Link)

Alan Licht – Sound Art Revisited (Bloomsbury Academic)

„Sound Art is made to sensitize people to the sounds in their surrounding world.“ Dieses Zitat von Taras Mashtalir steht nicht in Alan Lichts aktueller Bestandsaufnahme der Klangkunst, sondern in David Rothenbergs „Nightingales in Berlin“, beschreibt die Kernthese und das Anliegen von Lichts Buch aber ziemlich genau. Wo Rothenberg sich bei seinen Geschichten der Sound Art von Zufall und Begegnungen assoziativ leiten lässt, geht Licht, ebenfalls langjähriger Praktiker der Kunst, die Sache systematisch an. Vor zwölf Jahren war „Sound Art“ ein Buch/Katalog zu einer Ausstellung, die nicht zustande kam. Da Sound Art inzwischen sogar in den bornierteren Teilen der Kunstwelt angekommen ist und massiv an Bedeutung und Mitspieler*innen gewonnen hat, nun Lichts Revision, wieder in Buchform.

Er geht historisch-analytisch vor, zeigt die verschiedenen Musik- und Kunstströme, aus denen sich die Sound Art entwickelte, und gibt einen wissenschaftlich-fundierten Überblick über die historischen und aktuellen Formen dieser keineswegs homogenen Kunst. Der Versuch einer objektiven Darstellung des Themas endet leider zu oft in ermüdendem Date- und Name-Dropping, dem Nacherzählen einmalig „legendärer“ Events. Was Licht viel besser kann als erzählen, ist der Sound Art einen konzeptuellen Rahmen zu geben, der in seiner Offenheit den verschiedensten Ausformungen gerecht werden kann. Es gibt ja durchaus gemeinsame Grundannahmen, wie die Wechselwirkung mit bildender Kunst oder Architektur, die Herstellungsweise, die einen Kanal von „listener-to-listener“ eröffnet statt den üblichen „player-to-listener“.

Sound Art war lange Zeit ein Underdog in der Kunstwelt, kaum kommerziell verwertbar und mit höherem Frauenanteil als in Kunst und E-Musik der Zeit üblich, eine Kunstform, die sich schon sehr früh mit Fragen von Naturkultur, Umwelt und Ökologie auseinandergesetzt hat. Aus der Nischenveranstaltung mit oft langer Dauer und unbequemer Ortsspezifität wurde in den vergangenen Jahren etwas Populäres. Wenn etwa Tech-House-Star Donato Dozzy eine zwölfstündige Sound-Installation auf einer römischen Brücke macht und das in Organen wie groove.de besprochen wird, ist das eindeutig ein Indiz für einen Zeitenwechsel. So ist das Buch trotz der drüschen Aneinanderreihung großer Namen doch ziemlich akut. Vor allem aber die dringende Aufforderung zu hören (mit oder ohne Kunst).

Pageturner David Toop – Inflamed Invisible

Inflamed Invisible (Affiliate-Link)

David Toop – Inflamed Invisible (Goldsmiths Press)

Noch ein Buch über Sound Art. Wieder von einem langjährigen Praktiker, Kurator, aber vor allem Theoretiker, Chronisten und wohlwollenden Kritiker des Inter-Genres von Kunst und Musik, Klang, Stille und Noise, hörender Produktion von Sound und Unsound. David Toop hat bereits einige definierende Bücher zu Ambient („Ocean of Sound“), Improvisation und Neuer Musik („Sinister Resonances“) geschrieben. Sein jüngster Band „Inflamed Invisible“ ist nur eine Sammlung bereits veröffentlichter Essays, Rezensionen, Texten aus Ausstellungskatalogen, Nachrufen und Liner Notes für befreundete Musiker*innen und Künstler*innen. Weniger großer Überblick und Theoriefassung als eine im Format angelegte zufällige Collage von Detailaufnahmen des Sound-Art-Universums. Eine schöne Ergänzung zum enzyklopädisch gestimmten „Sound Art Revisited“ von Alan Licht.

Toop wie Licht geht es um das prekäre Verhältnis von Hörer*in und Musiker*in, um Musik und Sound, Struktur und Rauschen, Leere und Semantik. Ebenfalls mit reichlich Namedropping und episodischem Nacherzählen, aber doch etwas persönlicher als bei Licht, gelegentlich sogar tendenziell lyrisch im avantgarde-modernen Sinn. Sowieso scheinen die unterirdischen Kanäle, die die klassische Moderne und Avantgarde der Neunzehner-Jahrhundertwende bis zur Zwischenweltkriegszeit die Quellen zu sein, aus denen Toop seine Zusammenhänge, Verbindungen und Kurzschlüsse zieht. Etwa von Pablo Picasso über den japanischen Minimalisten Minoru Sato zum Berliner Elektronikproduzent Monolake, via David Mancuso zur Installationskunst von Haroon Mizra – mit Sechziger-Minimal-Komponist Alvin Lucier als heimlichem Helden. Durchaus erstaunlich, wie sich Toop nicht selten als verhärteter Modernist platziert, etwa in der kategorischen Ablehnung von Loops fast jeder Art. Immerhin hat der Mann doch vor knapp 30 Jahren „Rap Attack“ geschrieben, was angesichts seiner jüngeren Standpunkte schon sehr weit weg erscheint. Langweilig wird es so nie.

Mix der Woche: Carsten JostHommage an die gute alte Zeit im Golden Pudel

Water Works – Geschichten aus Südafrikas WasserkriseTeil 4 | The End of the World