Pageturner: Literatur im März 2019Frederika Amalia Finkelstein, Édouard Louis und Annie Ernaux
4.3.2019 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteWer schreibt, der bleibt. Das gilt vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist unser Pageturner. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Diesen Monat blickt er für uns nach Frankreich. In ihrem zweiten Roman beschreibt die Autorin Frederika Amalia Finkelstein, wie mit elektronischer Kommunikation geprägte junge Menschen mit Verlust, Gewalt und Tod umgehen. Édouard Louis setzt sich anhand der Geschichte seines Vaters mit den so genannten Gelbwesten auseinander. Und auch die komplexen Romane von Annie Ernaux knüpfen trotz ihrer historischen Perspektive an die gegenwärtige politische Gemengelage der „grande nation“ an.
Frederika Amalia Finkelstein - Überleben (Suhrkamp)
Notizen aus dem sozialmedial beschädigten Leben. Wie gehen von elektronisch virtualisierter Kommunikation geprägte junge Menschen mit Erfahrungen von Verlust, Gewalt und Tod um? Ava, die 25-jährige Erzählerin des Romans „Überleben“, gehört wie ihre Autorin Frederika Amalia Finkelstein zu dieser Generation. Ava ist der jüngste und vielleicht letzte Abkömmling einer Familie von Überlebenden, gerade noch Davongekommenen, deren Nachbarn Freunde und weitere Verwandtschaft meist weniger Glück hatte: die jüdischen Großeltern noch rechtzeitig nach Argentinien emigriert, die Eltern knapp dem Terror des Militärregimes entronnen und die in Paris lebende Tochter am 15. November 2015 doch nicht ins Bataclan gegangen. Traumatisiert ist Ava daher ausschließlich von den medialen Bildern des Terroraktes. Diesem virtualisiert posttraumatischen Stress, der sie ihren Job und den Rest der verbliebenen Freunde und raren Sozialkontakte kostet, versucht Ava durch exzessives medienvermitteltes Erinnern beizukommen. Sie versucht mit dem Auswendiglernen von Namen, Daten, Opferstatistiken dieses Massenmords und vieler weiterer, ihr sozial leeres, nur mit Bildern, Worten und Zahlen der Gewalt gefülltes Ich wieder zu entleeren und neu zu zentrieren. Eine Möglichkeit des Aufbruchs in ein Leben jenseits des Smartphone-Displays bieten erst der anfangs als nicht weniger irreal empfundene Tod der Großmutter und die ebenfalls wie virtuell erlebte Reise zum Begräbnis nach Buenos Aires.
Der zweite Roman der Pariser Autorin zeichnet ein ziemlich anomisches Bild ihrer Peers, der urbanen Generation Y und Millennials, die Emotionen nur noch via Instagram-Filter zulassen, Ängste und Negativität ausschließlich digital-rationalisiert ertragen können. „Überleben“ ist ein sehr ungemütlicher Paris-Roman. Französische Gegenwartsliteratur, die komplett ohne Liebe, Sex, Freundschaft, Genuss und Exzess auskommt. Und doch macht der Roman in all seiner diskommunikativen Betäubung und Sprachlosigkeit Hoffnung, dass ausgerechnet (oder gerade) aus der Egoshooter-sozialisierten Jugend etwas anderes werden kann als Social-Media-Zombies und App-Vieh.
Édouard Louis - Wer hat meinen Vater umgebracht (S. Fischer)
In einem Text für das französische Musikmagazin „Les Inrockuptibles“ bekundete der französische Literatur-Jungstar Édouard Louis erstmals seine Sympathien für die Proteste der Gilets Jaunes, mit dem mittlerweile zum geflügelten Wort gewordenen „Wer die Gelbwesten als gewalttätigen rechten Pöbel denunziere, der beleidige auch seinen Vater“. In „Wer hat meinen Vater umgebracht“, das so etwas wie ein verständiges sympathisierendes Gegenstück zu seiner Familiengeschichte in „Das Ende von Eddie“ darstellt, gibt er dem stimmlosen, namenlosen „Pöbel“ eine Geschichte und ein Gesicht – das seines Vaters. Er erzählt von ihm und macht ihn so von einem anonymen homophoben und rassistischen Arbeiterklassenklischee zu einem Individuum. Zu einem Menschen, dessen Geschichte sonst nicht erzählt würde. Weil sich Politik und die urbanen intellektuellen Eliten – zu denen Louis mittlerweile selbst gehört, was er immer mitreflektiert – für solche Schicksale nicht im geringsten interessieren und ihnen mit maximaler Kälte und Distanz gegenüberstehen. Louis erzählt – wie immer – aus der autobiografischen Perspektive, die zu Literatur zu machen er versteht wie kaum ein(e) andere(r) zur Zeit: Annie Ernaux mal ausgenommen.
Dennoch ist etwas anders als zuvor. Die Wut über die Ohnmacht der Vielen gegenüber den Zuständen bekommt hier einen klaren Adressaten. Und das Einzelschicksal, schnappatmend vorgetragen als Rant (oder als Rap?), wird zeitgeschichtlich und politisch. Denn es zeigt, wo die Gräben inmitten des gesamtgesellschaftlichen Konsenses verlaufen, wo die unsichtbaren Grenzlinien gezogen werden, wie es zu der Unversöhnlichkeit kommen konnte, mit der sich heute die Unzufriedenen und die Etablierten, die drinnen und die draußen, konfrontiert sehen. Die Dringlichkeit und Hast, mit der dieses Buch geschrieben ist, der explizite Anklagegestus, lassen es für sich genommen vielleicht etwas schwächer wirken als Louis’ frühere Bücher. In Kombination, als Ergänzung und Gegenstück zum „Eddie“ ist dieser schmale Band aber mindestens ebenso groß und wichtig.
Annie Ernaux - Erinnerung eines Mädchens / Die Jahre (Suhrkamp)
Die französische Schriftstellerin und pensionierte Hochschullehrerin Annie Ernaux wird gerade massiv wiederentdeckt (in der frankophonen Welt) oder überhaupt erst entdeckt (im Rest der Welt). Das ist ein großes Glück, aber kein Zufall. Die hochreflektierte meta-autobiographische Schreibweise, die sie mit geprägt und mit erfunden hat, erlebt aktuell eine kreative Blüte und zieht zumindest in Frankreich eine ungeahnt breite gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Anerkennung auf sich. Ernaux ist eher unfreiwillig zur halboffiziellen Chronistin der französischen Nachkriegsgesellschaft geworden. Ihre Bücher inspirierten sowohl gesellschaftskritische französische Von-sich-selbst-Erzähler wie Édouard Louis und Didier Eribon, die beide Ernaux als Rollenmodell und schreibendes Vorbild betrachten, wie auch diverse Literat*innen auf der ganzen Welt. Ich könnte mir zum Beispiel sehr gut vorstellen, dass Elena Ferrante, wer auch immer hinter dem Alias stecken mag, Ernaux gelesen und geliebt hat. Ein Glück ist es, weil Ernaux grandios schreibt: mit einer analytischen Schärfe und Gnadenlosigkeit sich selbst gegenüber, aber nicht weniger humanistisch, emotional und warm. Ernaux beobachtet sich beim Beobachten des Erinnerns an ihr früheres Selbst – und erzählt doch ganz unmittelbar, einfach und mit großer Kraft Geschichte(n) von sich selbst und der französischen Gesellschaft.
Die „Erinnerung eines Mädchens“ rekapituliert das Jahr 1958, vom Ende der Schule bis zum Beginn der Fachhochschule. Mit dem entscheidenen Zwischenstopp eines Ferienjobs in einem Sommercamp, auf dem die 18jährige Annie als Betreuerin aushilft. Das Buch beschreibt ihr Ringen um Zugehörigkeit und Unkonventionalität in diesen neuen Situationen, zwischen Ängsten, Selbstüberschätzung, Scham, sozialer Ungelenkigkeit und dem konstanten Druck der Erwartungen und Konventionen: mit Alkohol und genereller Aufmüpfigkeit sowie zaghaften, sich selbst gegenüber ziemlich skrupellosen Experimenten in Sexualität – was Ende der 1950er-Jahre (vor der Pille) für einen Teenager eben so möglich war. So gelesen, ist es eine ganz normale Coming-of-Age-Geschichte eines für die Umstände oft zu lebenshungrigen und zu intelligenten Mädchens. Die Erzählweise ist allerdings alles andere als konventionell. Ernaux schreibt ihre Geschichte als komplexe Überlagerung von echten und konstruierten Erinnerungen aus neu gelesenen Tagebüchern, Briefen, Postkarten und Fotografien, re- und dekonstruiert von der reflektierten Intellektuellen, die Ernaux heute ist. So wird die Naivität des Mädchens, die ihre Erfahrungen vorwiegend aus Romanen bezieht, selbst eine mehrfach gespiegelte Romanfigur, welche die reale Naivität des Mädchens zu einer Spiegelung des größeren Ganzen eines spezifischen Ausschnitts aus der französischen Gesellschaft in diesem Jahr werden lässt. Eine Welt, die kleinbürgerlich eng, subproletarisch, ehemals bäuerlich-arm, provinziell und sehr bildungsfern ist. Die unkoordinierten und spontanen Versuche des Mädchens, diesen Zusammenhängen zu entkommen oder sich in sie zu fügen, wird geschildert als individuelle singuläre Erfahrung und gibt doch Überindividuelles über die spezifischen Befindlichkeiten dieser Zeit wieder. Und das ist wie im Fall des ganz ähnlich arbeitenden Édouard Louis genuine Literatur von großer gefühlter Wahrhaftigkeit und Reichweite.
„Die Jahre“, Ernauxs Hauptwerk der vergangenen Dekade, ist stilistisch noch etwas postmoderner und fragmentarischer. Kurz aufblitzende Erinnerungsfetzen, die mitten im Satz beginnen und enden können, Aphorismen und Passagen, die an Blaise Pascals philosophische Selbstbeobachtungsexperimente in den „Pensées“ erinnern, rahmen hier einen Text klassisch-realistischer Erzählkunst. Konventionell schreibt Ernaux immer dann, wenn es um konkrete Beschreibungen von Dingen und Gefühlen geht. Geht es aber um Gedächtnis und Erinnerung, diese ach so trügerischen Gefährten, schreibt sie experimenteller und avantgardistischer. In diesem Mosaik mehr oder weniger realistischer Bruchstücke entsteht nach und nach ein Bild des modernen Frankreich. Von der Nachkriegskindheit in der Provinz mit ihren erzkatholischen verschlossenen Menschen, über den sozialen Aufstieg zu Lehrerin, Schriftstellerin und tendenziell bohemistischen 68’er-Mutter im Eigenheim in der Peripherie von Paris, bis in das desillusionierte Heute. Ernaux verklärt die Jahre nicht, aber genauso wenig verrät oder verachtet sie ihre „einfache“ Herkunft. Das Archetypische dieser Biographie liegt im Zerreißen der Zugehörigkeit. Nicht mehr Teil der kleinstädtischen Vergangenheit zu sein, nichts mehr mit den Eltern und Kinderfreunden gemeinsam haben, aber mit dem neuen Leben als Dozentin und Autorin doch nie wirklich in der Pariser linksbürgerlich-intellektuellen Elite ankommen zu können. Kein Zufall also auch, dass Ernaux, wie Édouard Louis und Didier Eribon, in neueren Interviews die Blockaden und Streiks der Gilets Jaunes nicht als Produkt eines rechtspopulistisch ideologisch aufgeladenen Pöbels denunziert hat, sondern als spontanes Aufbegehren „ihrer“ Leute. Das macht Ernauxs Erinnerungsprosa fast unheimlich zeitgemäß, und erklärt eventuell ihre jüngste Popularität. Die literarische und menschliche Qualität ihrer Texte war und ist davon unbenommen und unabhängig schon immer großartig.