Pageturner – Literatur im Juni 2022Timo Feldhaus, Roland Schimmelpfennig, Kirsty Bell
1.6.2022 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteBücher, Texte, Geschichten. Das sind Deep-Dives ohne Marketing-Konnotation und auch keine Longreads mit Like-Clickbait. Wer schreibt, der bleibt. Frank Eckert ist der Pageturner der Filter-Redaktion und inhaliert Monat für Monat zahllose Bücher. Ob dringliche Analysen zum Zeitgeschehen oder belletristische Entdeckungen – relevant sind die Werke immer. Diesen Monat dreht sich alles im Berlin – im abstrakten wie realen Sinne. Der Berliner Autor Timo Feldhaus veröffentlicht mit „Mary Shelleys Zimmer“ sein Belletristik-Debüt – ein Blick auf das Jahr 1816, als ein Vulkanausbruch das Klima veränderte und die Popkultur geboren wurde. Roland Schimmelpfennig schreibt mit „Die Linie zwischen Tag und Nacht“ einen Berlin-Roman im besten Sinne, zwischen Rave und Crime, mit einer Leiche im Landwehrkanal. Derer gibt es bei der Britin Kirsty Bell in „Gezeiten der Stadt“ gleich mehrere, wenn sie die Geschichte ihrer Berliner Wohnung und des darum liegenden Kiezes in den Blick nimmt. 3 x Berlin, 3 x anders, 3 x unique.
Timo Feldhaus – Mary Shelleys Zimmer (Rowohlt)
Das Epos vom „Jahr ohne Sommer“ 1816 – und wie eine Gruppe frierender Brit:innen in der Schweiz die Popkultur erfunden hat – wurde schon mehr als einmal erzählt: in zahlreichen Sachbüchern vor allem um das 200-jährige Jubiläum herum, in Filmen wie in Romanen, vor kurzem etwa dem ziemlich brillant in die Zukunft extrapolierenden „Frankissstein“ von Jeanette Winterson. Der Berliner Journalist Timo Feldhaus erzählt die Geschichte(n) dieses historischen Kipppunktes als hybride Doku-Fiktion, also mit den ausgedachten Stimmen der real Beteiligten. Es ist ja nun auch eine extra starke Story, die sich in der beginnenden Hochphase des Anthropozän am Ufer des Genfer Sees abspielte, wo die Saat des populär und Hochkultur-Werdens von „Deus ex Machina“, Cyborg und Vampir-Motiven gelegt und auf andere Weise auch die Geburt des Digitalen, der Algorithmen vorbereitet wurde. Also Themen, die uns bis heute beschäftigen und es sicher noch länger tun werden, welche die brillante noch jugendliche Mary Shelley, ihr überforderter Ehemann Percy Bysshe Shelley, der exzentrische Lord Byron, die freizügige Clair Clairmont und der glücklose John Polidori in ihrem Urlaubsexil auf der Flucht vor der Aschekälte des Vulkans Tambora östlich von Java aufgebracht und angenommen haben.
Feldhaus verbindet die Geschichte der Anfänge mit anderen, etwa dem Beginn der systematischen Wetterbeobachtung und Klimaforschung und den Einlassungen des alternden Johann Wolfgang von Goethes, seiner Portraitistin Louise Seidler, der Gönnerin Katharina von Württemberg (Gründerin des „Canstatter Wasen“), den deutschtümelnden Polemiken des „Turnvater“ Jahn, dem Waterloo-Unterlegenen Napoleon Bonaparte (ebenfalls ein Wetterereignis und indirekte Folge des Vulkanausbruchs), dem gutmütigen Kolonialbeamten, Forschungsreisenden und Gründer des Londoner Zoos Raffles und so manchen mehr. Es entsteht so ein panoramisches und in der Konzentration auf bestimmte Konstellationen dioramisches Bild einer Zeit der Umbrüche und Neuordnung Europas nach dem Wiener Kongress. Entwicklungen, die nicht von einem globalen Klimaereignis erst so richtig in Bewegung gesetzt wurden. Das ist flott und spannend erzählt, immer informativ und von kleinen Anachronismen durchsetzt, die irritieren und so die Aufmerksamkeit wachhalten. Etwa wenn Goethe in einem „Zen-Superzustand“ über den Weimarer Markt flaniert. Was diese anderweitig schon vielmals erzählten Geschichten hier noch mal lesenswert macht, ist ihre unaufdringliche Nebeneinanderstellung. Zusammenhänge werden nicht forciert, sondern locker angeboten.
Roland Schimmelpfennig – Die Linie zwischen Tag und Nacht (S. Fischer)
Erster Mai, Berlin, Techno. Ein Roman aus einer anderen Zeit. Oder vielleicht sogar aus zwei anderen Zeiten, denn der Geist Jörg Fausers, speziell dessen Harder aus dem „Schlangenmaul“, schwirrt hier noch in und über den Beats, Bässen und Krautschwaden.
Der Erzähler ist traumatisierter Ex-Polizist, ehemaliger Überflieger in der Drogenfahndung, nun eher bei den hängengebliebenen Raver:innen und kleinkriminellen Usern, mit einem anhängigen Korruptionsverfahren in der Schwebe. Er zieht an diesem kühlen ersten Mai die Leiche einer jungen Frau aus dem Landwehrkanal. Überdosis, auffälliges Tattoo, aber keine Identität, offenbar post mortem in ein Brautkleid drapiert und dem Wasser übergeben. Weil sich auf Seiten der Behörden niemand dafür interessiert, wer die Frau gewesen ist, zieht er selbst los in einer Mischung aus Pillenrave, Hallu-Trip und Private-Eye-Recherche, um ihr einen Namen, eine Geschichte, eine Vergangenheit zu geben.
Diese Suche, klassischer Weise immer auch eine Selbstfindung, führt ihn in das Berlin der Aus- und Aufsteiger:innen, Zufallsbekanntschaften, Wahlverwandtschaften, Druffi-Freundschaften, Bauwagenbewohner, Biohacker, Irgendwie-auch-Künstler:innen, Neo-Bohemiens, und den temporären Gentrifizerungsgewinnern dieser Kulturen, Drogenbossen und Investoren, und wieder zurück. Diesen Unten-Oben-Unten-Wirbel erzählt Roland Schimmelpfennig, derzeit einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Theaterautoren, in schneller Prosa, knappen Dialogen, syntaktischen kurzen Sätzen ohne jede Sentimentalität. Das alles macht „Die Linie zwischen Tag und Nacht“ zu einer legitimen Nachfolge und Neuerfindung von Fausers besten Romanen. In heute natürlich, ohne Fausers Westberlin/BRD-Ennui und ohne dessen manchmal fragwürdiges Frauenbild zu reproduzieren. Schimmelpfennigs Berlin-Roman ist definitiv von heute und für heute.
Kirsty Bell – Gezeiten der Stadt (Kanon Verlag)
Wieviel Geschichte doch in und um ein gewöhnliches Altbau-Stadthaus passiert ist, wenn sich mal wer die Mühe macht, genauer hinzusehen. Die britische Autorin und Journalistin Kirsty Bell, die seit der Jahrtausendwende in Berlin lebt, tat das für ihre Wohnung am Landwehrkanal. Sie geht den Spuren nach, durchforscht Katasterämter und Bibliotheken und folgt den Begebenheiten: von der Stadtteilgründung einer begrünten Gartenstadt, der Einkeilung durch die Eisenbahn zu den Transporten von blicknahen Anhalter Bahnhof. Beunruhigende Begleitung sind die vielen Leichen, die über die Jahre oft in unmittelbarer Nähe aus dem Kanal gezogen wurden, am prominentesten wohl die der Rosa Luxemburg, entführt und ermordet von den Freikorps und monatelang unentdeckt im Kanal treibend.
Bell verbindet das Historische mit ihrer eigenen persönlichen Lebensgeschichte und kritisch-historischer Berlin-Erzählung, was einen hybriden, aber jederzeit plausiblen Sinn machenden Lesefluss ergibt. Von der erschöpften Stadt und dem Haus mit dem miesen Feng Shui. Im Sumpf auf Sand gebaut, durch Armut und Überbelegung gewachsen, in Moder, Elend und Dichte. Aber auch von grünen Schneisen und einem der fortschrittlichsten Abwasserkonzepte weltweit. Die Ehe der Erzählerin rettet das ebensowenig wie das endlose Projekt der Renovierung der schiefwinklingen und viel zu großen Altbauetage. In dieser stimmigen Verbindung von individuell-persönlichem mit lokaler und globaler Geschichte liegt ein Reiz auch für Nicht-Anwohner:innen. Das immense Gewicht der Vergangenheit, die steingewordenen stratifizierten Geld- und Machtverhältnisse, die Leben und Tode der vielen, sie scheinen auf in jedem kleinen Detail dieser Wohnung, dieses Hauses, der Straße, des Gleisdreiecks, des Viertels, der Stadt. Sie sind es Wert aufgeschrieben, hartnäckig nachverfolgt zu werden. So spezifisch, so universell gültig sind sie doch.