Pageturner – Literatur im Juni 2021Kazuo Ishiguro, Raphaela Edelbauer, Élisabeth Filhol
2.6.2021 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteWer schreibt, der bleibt. Vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist der Pageturner und versorgt uns jeden Monat mit Reviews seiner literarischen Fundstücke. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Für den Juni hat der Autor den neuen Roman von Kazuo Ishiguro gelesen. Der Literatur-Nobelpreisträger sucht in „Klara And The Sun“ nach dem Humanistischen im Digitalen. Eine Sphäre, die auch bei Raphaela Edelbauer und ihrem Roman „DAVE“ im Mittelpunkt steht. Und die Französin Élisabeth Filhol verbindet in „Doggerland“ Natur, Geologie und Metereologie mit dem Menschlichen – ein Anthropozän-Roman, der sein Sujet ernst nimmt.
Kazuo Ishiguro – Klara and the Sun (Faber & Faber / Blessing)
Der tiefe humanistische Kern aller Romane des Nobelpreisträgers Kazuo Ishiguro liegt wohl darin, dass er denen eine erzählende Stimme gibt, von denen üblicherweise angenommen wird, sie hätten sowieso nichts zu sagen. Wie der Hausdiener in „The Remains of the Day“ oder, ins Spekulative gewendet, die Klone als Zwangs-Organspender in „Never Let Me Go“. Oder eben der obsoleszente Hubot Klara in Ishiguros jüngstem Roman. Sie alle sind einem repressiven oder faschistischen System ausgeliefert. Hier wird es nur angedeutet, in Konversationen aufgeschnappt, nie explizit erwähnt. Unter diesen Umständen haben die Protagonist*innen Ishiguros keine Macht, keinen Einfluss, keine Stimme und können allein durch ihre Menschlichkeit, durch Freundlichkeit und Wärme einen sehr indirekten inwendigen Widerstand leisten. Das ist natürlich tief traurig und wunderschön.
Für Klara, ein Artificial Friend älterer Bauart, die selbst eine menschliche Care-Arbeitskraft ersetzen sollte, kommt dieser Punkt, als sie dazu gedrängt wird, mehr als nur die beste Freundin eines todkranken Mädchens zu werden – nämlich unter Aufgabe ihres Selbst zu ihr zu werden. Sie zu ersetzen und durch genaue Beobachtung und radikale Empathie die Grenze von Identität überschreiten zu müssen (eventuell sogar zu wollen). Das ist herzzerreißend traurig und tragisch, in aller erzählerischen Wärme aber auch tröstlich. Ishiguro, darin ist und bleibt er Oldschool-Brite, besteht darauf, dass es in der schlimmstmöglichen Gesellschaft, im gewaltvollsten System, noch anständige Menschen gibt. Selbst, wenn diese Klone oder Roboter sind.
Raphaela Edelbauer – DAVE (Klett-Kotta)
Eine deutschsprachige spekulative Fiktion zum Hip-Tech-Topic KI: Das ist keine Seltenheit mehr, aber immer willkommen. Dass der Roman keine modische Dystopie sein möchte, und dass er, von einer jungen Wienerin geschrieben, völlig ohne hiesigen Schmäh auskommt, ist schon eher ungewöhnlich. Dazu noch wird die Geschichte in bester/schlimmster Mansplaining-Manier erzählt – von einem ziemlich anomischen und reichlich sozialinkompetenten Programmierer-Dude, einem von 11.654 Softwareingenieuren, die an SCRIPTS schreiben, unabhängigen winzigen Teil-Modulen für die erste wirklich generelle Künstliche Intelligenz „DAVE“. Dieser (männliche Form ist hier tatsächlich beabsichtigt) soll nicht weniger als die Welt retten und das Überleben der Menschheit sichern. Ein Aufgabe, die absehbar schwieriger verlaufen wird als vorgestellt, von allen soziokulturellen und psychologischen Nebenwirkungen mal abgesehen. Tech-Gnostiker, Mind-Uploader und so ungefähr alle anderen Schattierungen religiöser Apokalyptiker projizieren all ihre Hoffnungen und Ängste auf DAVE.
Das entscheidende Merkmal des Romans ist allerdings weniger der Inhalt, weniger die Entwicklung der Geschichte mit ahnbarer Pointe, sondern vielmehr die Sprache. Eine mehr als eigenwillige Verbindung von stil- wie formlosem gedankenarmem Techspeak und gespreizter „Emeritierter Professor“-Prosa. Mit lateinischen Phrasen gespickte indirekte Rede, viel Konjunktiv und gerne Plusquamperfekt oder Futur II. In altbackene Worthülsen gekleidet oder in Neologismen getarnte sprachliche Mittel der Distanzierung, der Abstraktion vom Unmittelbaren, von der Präsenz, vom Menschen und seinem „imperfekten“ Körper. Raphaela Edelbauers zweiter Roman ist also durchaus gewöhnungsbedürftig und kann gehörig nerven. Doch der Blick auf das KI-Problem aus der Perspektive der zuarbeitenden Unterklasse der minimale Teilprobleme lösenden Programmierknechte (mit Drang zu höherem) ist ziemlich erhellend. Niedriger in der Hierarchie dieser Technologiesozialität sind nur Leute, die „mit Menschen arbeiten“, Mediziner*innen etwa. An solchen Stellen wird der Roman oft zur grellen Farce. Öfter aber geht die bewusste Wahl einer betont kunstlosen Nerdsprache als Stilmittel auf. Nicht zuletzt weil sie – im Gegensatz zu so mancher unfreiwillig uneleganter „Hard“-SF – jederzeit als bewusste Wahl ausgestellt wird.
Élisabeth Filhol – Doggerland (Edition Nautilus)
Endlich ein Anthropozän-Roman, der sein Sujet ernst nimmt und die Natur, Geologie und Meteorologie als gleichberechtigte Protagonisten neben den menschlichen einsetzt. Also ganz in Sinne von Bruno Latour oder Donna Haraway. Die nichtmenschlichen Player in diesem Roman sind das Sturmtief Xaver und das von ihm freigelegte „Doggerland“, ein seit der frühen Eisenzeit von Ozean überspültes Stück Land, welches auf der Höhe von Friesland und Holland die britischen Inseln mit dem verband, was heute das europäische Festland darstellt. Es ist auch so etwas wie das Herzstück von Albion – und damit im Zentrum altenglischer Mythen. Die versunkenen versteinerten Wälder sind so gleichermaßen erhabene Natur wie sagenumwobene Kultur aus der Frühzeit der Menschheit.
Die beiden menschlichen Hauptdarsteller, sie Geologin, er Geo-Ingenieur, vor langer Zeit einmal ein Paar, sind beide mit dem Doggerland beruflich und spirituell verbunden. Sie erforschen es (sie), beuten seine Ressourcen aus (er). Orkan und Niedrigwasser stellen nun die Pläne und letztlich das ganze Leben der Menschen, die mit ihnen direkt zu tun haben, aber auch vieler anderer, auf den Kopf. Es sind die Geister einer sehr weit entfernten archaischen Vergangenheit. Aber ebenso die einer ganz nahen persönlichen, die sich hier mit Macht in die Erinnerung rufen. Was die französische Autorin Élisabeth Filhol aus dieser Ausgangslage herausholt, liest sich oft wie modernes Nature Writing, etwa von Robert McFarlane, Psychogeografie und Deep Time Chronik – verknüpft mit der stillen Melancholie einer Poetry of Place wie der von Esther Kinsky. Der Verdacht, dass die Naturgewalten hier nur als Lieferant für Spektakel und Krawall herhalten muss, kommt so gar nicht erst auf. Dass Filhol ihre nichtmenschlichen Aktanten ebenso ernst nimmt wie die menschlichen, macht den Roman nicht nur zu besserer Literatur als etwa „Der Schwarm“, sondern auch insgesamt interessanter. Die Extreme der Natur dienen als Restlichtverstärker, als Lupe, die die Ränder, Narben und Ausfransungen unserer Konstruktionen von Realität, Gegenwart und Vergangenheit scharf stellt. Das Innenleben der Protagonist*innen wirkt dagegen eher ungelenk und flach – aber den scheuen sozial-inkompetenten Forschertypen, die das Buch bevölkern, jederzeit angemessen. Filhol benutzt eher Tell-don't-Show als umgekehrt, was der Eleganz des Textes eher nicht förderlich ist. Es bleibt eine ungewöhnliche und spannende Mischung aus exzellenter Natur- und Wissenschafts-Fiktion und einem tangentialen Beziehungsroman.