Pageturner – Literatur im Juli 2022Park Min-Gyu, Sibylle Berg, Kai-Fu Lee & Qiufan Chen
4.7.2022 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteBücher, Texte, Geschichten. Das sind Deep-Dives ohne Marketing-Konnotation und auch keine Longreads mit Like-Clickbait. Wer schreibt, der bleibt. Frank Eckert ist der Pageturner der Filter-Redaktion und inhaliert Monat für Monat zahllose Bücher. Ob dringliche Analysen zum Zeitgeschehen oder belletristische Entdeckungen – relevant sind die Werke immer. Zunächst beamen wir uns nach Südkorea. Die Storys von Park Min-Gyu drehen sich gesellschaftlichen Gegebenheiten des Landes – aus einer eher skurrilen Perspektive. Nerds sind auch dabei. Die stehen auch im zweiten Teil von Sibylle Bergs Hacker-Trilogie im Mittelpunkt. Für die Autorin ist die konstante Überwachung in unserer Gesellschaft eine dunkel-dräuende Realität. Das sieht der chinesische Entrepreneur Kai-Fu Lee dann doch etwas anders. Für „Ki 2041“ hat er sich mit dem SciFi-Star Qiufan Chen zusammengetan, um der KI bejahende Kurzgeschichten zu widmen.
Park Min-Gyu – Entenbootweltbürger (2020)
Die eher langen Kurzgeschichten von Min-Gyu Park setzen die Zwänge und den Druck frei, den die koreanische Gesellschaft auf ihre Mitglieder ausübt. In absurden Wendungen, gerne exzessiven Übertreibungen, in der wahnwitzigen Eskalation gewöhnlicher Situationen. Anders als Han Kang oder Nam-Joo Cho haben die Storys des renommierten koreanischen Autors Park selten einen feministischen Twist, spielen nicht in Familie und Ehe, sondern lieber unter Student:innen und eigenartigen Nerds. Sie sind aber nicht weniger von den archaischen Verhaltensweisen und autoritären Sozialzusammenhängen geprägt, die sich zudem noch einer beschleunigten globalisierten Arbeitswelt, einem internalisierten Wettbewerbsdenken ausgesetzt sieht. Eben der koreanischen Mischung aus alt und neu.
Min-Gyu Park erzählt das schnodderpunkig mit einem hochentwickelten Sinn für alles Skurril-Abstruse. Wenn ein Mann zum Waschbär wird (oder umgekehrt), die U-Bahn zum Leviathan oder ein Kühlschrank zum Endgegner eines Studenten, hat das meist surrealen Witz und ist mit Punch erzählt. Wobei Park immer auch auf tief liegendere Probleme der Gesellschaft seines Landes zielt. Es geht um Anpassungsdruck, Machtlosigkeit und wie man diesen mit Aberwitz und Krassheit begegnet.
Sibylle Berg – RCE (2022)
Im neuen Plattform-Feudalismus werden die Nerds die Welt retten (oder resetten). Revolution wird es keine geben, das hat bereits „GRM“, der erste Teil von Sibylle Bergs spekulativer Hacker-Trilogie, vorgeführt und lässt sich auch bei TV-Serien wie Mr. Robot nachsehen. Die Bewusstmachung der eigenen Überwachtheit und digitaler Ausbeutung hatte eher den (Rebound) Effekt, anstatt für Empörung und aufständischen Geist zu sorgen, die schale Genugtuung zu liefern, jetzt für 15 Sekunden wenigstens wirklich mal öffentlich sichtbar gewesen zu sein. Eben mal kurz nützlich gewesen zu sein, Teil von irgendwas gewesen zu sein – und sei es nur die eigene berufliche Obsoletwerdung.
In diesem wiederum ausführlichst (700 Seiten) vorgeführten Elend, in dem nicht mal die skrupelloseren unter den Opportunisten, die emsigsten Denunzianten und die fleißigsten Selbstoptimierer noch eine Chance haben auf ein Stück vom Kuchen, ein kleines Lebensglück oder Veränderung zum besseren, liegt die einzige verzweifelte Chance auf einen Neuanfang in der kompletten Zerstörung der digitalen Infrastruktur des Finanzkapitalismus, der digitalen Plattformen, des Banken- und Gesundheitssystems, Hardware wie Software. Funktional oder lebensverbessernd sind sie in dieser eng anliegenden Dystopie schon lange nicht mehr (mit Ausnahme sehr wenige Profiteure), was Berg in zahllosen, meist sehr krassen Szenen ausbreitet. Ein Grüppchen aus prekären Hackern und ein paar wenigen Sympathisanten bereitet diesen großen Knall in „RCE“ vor, der Name des Buches nennt die eingesetzte Technik. Ob das gelingt erfahren wir hoffentlich im letzten Band der Trilogie. Wenn allerdings das bisherige System auf Ausschluss, Kontrolle, Angst und der Abschaffung demokratischer Beteiligung beruht, wie uns Berg in einem permanenten Strom krasser Hasserei einhämmert, was soll dann nach dem Crash neu entstehen? Aus und mit den prekären Existenzen, denen jeglicher Wille zur Veränderung in Dekaden der „Alternativlosigkeit“ abtrainiert wurde? Was richtet eine weitere disruptive Krise in der disruptiven Dauerkrise denn überhaupt noch aus? Ich bin gespannt, was Berg dazu noch einfällt.
Konsumhinweis: Das Buch ist wieder edelstgestaltet vom besten aller Richter, nämlich dem Claus Richter. Berg schreibt manchmal genderneutral aus einer Metaperspektive, was aber kaum auffällt, weil sich das Ganze dank knalligst polemischer Überspitzung und derbem Sarkasmus wegliest wie nix.
Kai-Fu Lee, Qiufan Chen – KI 2041 (2022)
Ist ja Business-101, dass heutzutage eine gute Idee oder ein gutes Produkt nicht mehr zum Erfolg genügen. Es braucht immer noch eine gute Erzählung. Der chinesische Unternehmer (FinTech und Venture-Kapital für Startups mit Fokus Künstliche Intelligenz) Kai-Fu Lee hat sich dazu den global zweit- oder drittbekanntesten chinesischen Science-Fiction-Autor Qiufan Chen geholt, um seine technisch-ökonomischen KI-Visionen in optimistische Short Stories zu fassen. Beide haben den größeren Teil ihres Berufslebens in den Führungsebenen der Tech-Konzerne des Silicon Valley verbracht. Kennengelernt haben sie sich, als sie bei Google arbeiteten. Das Niveau, auf dem sie sich mitteilen, ist also eher kommunikationsorientiert, eher das von TED-Talks und dem Weltwirtschaftsforum in Davos (zu dem sie regelmäßig eingeladen werden) als das eher technisch orientierte von Softwareentwickler:innen oder akademischen Wissenschaftler:innen.
Das Konzept der erklärenden Erzählung, die dann wiederum von erzählender Erklärung etwas technischerer Art ergänzt wird (sie nennen es „Scientific Fiction“ in Abgrenzung zu Science Fiction), funktioniert für das KI Thema ganz gut. Auch die Probleme, die KI generell und spezifische KI-Techniken wie Deep Learning, Convoluted Networks, Generative Adversarial Networks und DeepFake, Natural Language Processing und Robotik aufwerfen (z.B. die Reproduktion rassistischer Stereotypen) werden ausgiebig diskutiert und nicht verschwiegen. Letztlich herrscht aber schon ein pragmatisch (zwangs-?) optimistischer technikeuphorischer Tonfall vor.
Es ist frappierend und hochinteressant, diese KI-Visionen den Dystopien von Sibylle Bergs „GRM“-Trilogie gegenüberzustellen. Im Prinzip arbeiten Berg wie Lee/Chen mit technisch detailversessenen demonstrativen Thesenerzählungen und handeln in ähnlicher Breite und Tiefe die exakt selben Themenkomplexe um und zu KI ab. Allein die jeweils vorgegebene Prämisse („Alles wird gut“ vs. „Wir sind alle so was von am Arsch“) ist verschieden. Auf welcher Seite die Wahrheit in zwanzig Jahren einmal liegen könnte, wage ich nicht vorherzusagen. Meine Intuition sagt eher irgendwo dazwischen mit einem deutlichen Anteil weder noch. Aber in jedem Fall besser zumindest ansatzweise ahnen zu können, was alles so kommen könnte.