Pageturner – Literatur im Juli 2021Laura Lichtblau, Ling Ma, Dorothee Elminger

Pageturner-Juli2021-lede

Wer schreibt, der bleibt. Vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist der Pageturner und versorgt uns jeden Monat mit Reviews seiner literarischen Fundstücke. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Für den Juli empfiehlt unser Kolumnist drei Autorinnen: Lichtblau, ehemalige Spexerin, beschäftigt sich in ihrem Debüt „Schwarzpulver“ mit dem Eskalationspotenzial einer Nachbarschaftshilfe auf dem Weg in die Gewalt. Ling Ma schrieb schon vor Covid-19 über die Gefahren eines Virus – Zombie Nation eingeschlossen. Und Dorothee Elminger dekonstruiert unsere Gesellschaftsform mithilfe von Zucker.

Pageturner Juli 2021– Laura Lichtblau -  Cover

Laura Lichtblau – Schwarzpulver (C.H. Beck)

Der Debütroman von Laura Lichtblau, unter anderem bekannt als eine der Autorinnen der letzten Spex-Inkarnation, versucht zwei Dinge aneinander zu binden, die üblicherweise eine Homogenisierung schwer machen. Nämlich zum einen eine hochartifizielle poetische Sprache, die sich beim Idiom der Straße und des Internets bedient, ohne dabei auf die dadurch implizierte Weise funktionieren zu wollen, und zum anderen eine spekulativ sozialdystopische Extrapolation der politischen Realitäten der Berliner Republik. Erzählt wird von drei Außenseiterfiguren, einer Alleinerziehenden, ihrem Sohn und einer queeren Grifterin, die von und auf der Straße lebt. Sie geraten alle in den Bann einer neuen Bürgerwehr, die als linksliberal grünes und lokales Kiez-Projekt zur Lebensqualitätsverbesserung gestartet ist und aus einem inklusiven Nachbarschaftsprojekt durch die Häufung von NIMBYismen, nach außen liberal, aber doch lieber unter sich bleiben wollend, zu einem offen ausgrenzenden und sich zunehmend radikalisierenden (und mit dem Segen der Regierung sogar bewaffneten) autoritären „Heimatschutz“ wird. Mit einer Dynamik der Eskalation von Gewalt.

Der Roman beobachtet also, wie eine Nachbarschaftshilfe, ein Projekt, das anfangs stark an die von Stefanie Sargnagel gegründete ironische und feministische „Burschenschaft Hysteria“ erinnert, schnell von unterschwelligen, nie bewusst eingestandenen Ressentiments eingeholt wird und bald offen faschistisch agiert. Im Sinne „dieser einen Partei, die man eigentlich nicht wählen kann“, und die irgendwann eine europaweite reaktionäre Bewegung wird, unter der sich alte und neue Autoritäre sammeln und bewaffnen. Wie diese einfache und als Rolltreppe abwärts erzählte Warnung mit der spiralig verwirbelten Sprache, in der „Schwarzpulver“ erzählt wird, zusammengeht, ist das eigentliche wundern machende des Romans. Die kapriziöse, manchmal fast zwanghaft abgefahren poetische Sprache kann der tristen Dystopie tatsächlich etwas entgegensetzen. Ein Gleichklang von Form und Inhalt wäre wohl auch etwas zu einfach gewesen.

Pageturner-Juli2021-Ling Ma-Artwork

Ling Ma – Severance (The Text Publishing)

Die bisher beste Covid-19-Fiktion kommt von der US-amerikanischen Autorin Ling Ma. Sie ist schon 2018, in Teilen sogar deutlich früher, erschienen und erzählt nicht von SARS-CoV2, sondern von einem Pilz, der nach der chinesischen Provinz Shenzhen benannt ist, wo er erstmals auftrat und das sogenannte „Shen-Fieber“ auslöst – mit Lungenbeschwerden und langsamem Organversagen. Die Reaktion auf die neue Krankheit verläuft gemäß dem Zombie-Narrativ, weil „when you wake up in a fictitious world, your only reference is fiction“. Die Phase der Ignoranz (denial) ist dabei besonders lange und das Fieber dadurch besonders fatal, weil die gesellschaftliche Normalität möglichst unbehelligt aufrecht erhalten wird – mit Masken, Desinfektion und Einreiseverboten.

Die Erzählerin, eine chinesischstämmige Amerikanerin wie die Autorin und in der Selbstbeschreibung Arbeitsdrohne in einem New Yorker Verlag, bekommt ein (das?) Fieber relativ früh. Sie übersteht es mit kleineren Aussetzern ohne größere Beschwerden, was sie die Pandemie erstmal nicht ernst nehmen lässt. Immerhin gibt es ja noch das Internet und viele andere Infrastrukturen funktionieren auch noch. Die Zombiefizierung New Yorks geht langsam vonstatten, auch weil die Hirnschäden, die der Pilz hinterlässt, keine blutrünstigen Monster aus den Menschen macht, sondern eher puppenhafte Wesen, die mechanisch eingeschliffene Bewegungsabläufe oder bestimmte Prozeduren in Endlosschleife wiederholen. Bis sie irgendwann, nach Wochen oder gar Monaten, verhungern. Die allseitigen Desinfektionsmaßnahmen und N95-Masken verzögern die Katastrophe zusätzlich, so dass die in New York Gebliebenen weiterhin an eine vollständige Rückkehr der Normalität glauben. So lange, bis kaum noch jemand ohne Fieber übrig bleibt.

Die Handvoll Überlebender – ob sie immun sind oder nur ungewöhnlich lange Inkubationszeiten haben, bleibt offen – sucht Zuflucht in einer Mall in der Provinz (Zombie-Narrativ schon wieder), weil sie den Anführer der Gruppe an seine „glückliche“ Jugend erinnert. Ähnliche Kurzschlüsse von Konsum-Nostalgie und spätkapitalistischer Vaporwave-Wehmut durchziehen den Roman motivisch. Allesamt Millennials und Büromenschen, ergoogeln sie sich das Survivalist/Prepper-Wissen, bis auch Google schließlich nicht mehr läuft. Dann übernehmen archaische, biblische Motive. Der Anführer hält die Überlebenden (und vor allem sich selbst) für Auserwählte Gottes, sogar die atheistische Erzählerin.

Was Ma damit mehr als alles andere demonstriert, ist wie schwer es uns allen fällt, unser eingeübtes Komfortkonsumleben vollständig aufzugeben, selbst im offensichtlichsten Angesicht der Katastrophe (bitte hier einmal statt Virus/Pilz Klimawandel/Anthropozän einsetzen). Der wahre Horror liegt in unserer eigenen und nostalgisch-weich gebetteten Bequemlichkeit und Trägheit. Aber auch das ist noch nicht das Ende der Geschichte. Denn dieses erzählt unfassbar traurig, schön und elegisch von der Liebe zur Stadt, von der Möglichkeit zu leben.

Pageturner-Juli2021- Dorothee Elminger - Cover

Dorothee Elminger – Aus der Zuckerfabrik (Hanser)

Die Erzählerin dieser Collage an Wissenswertem und Anekdotischem ist einfach nicht fähig, eine kohärente Geschichte zusammenzufügen. Was ein Glück! Die Daten-Inhalte, die im Kopf der Erzählerin weitgehend unsortiert umherschwirren, machen so – im Gestrüpp – viel mehr Sinn und Freude, als wenn sie sie in eine nachvollziehbare Handlung gezwängt hätte. So habe ich mir immer schon – aber allerspätestens nach der Lektüre Pessoas Buch der Unruhe oder Fichtes Geschichte der Empfindlichkeit – einen interessanten Roman vorgestellt, einen, den ich schreiben würde, wenn ich es denn könnte. Einen, der Dinge aufschnappt, die herumschwirren, die irgendwie bemerkenswert, anhänglich oder auffällig sind, der wiedergibt, aber nicht beliebig oder zufällig, sondern in einem subtil Sinn machenden Arrangement zusammengehalten wird , dabei aber Plot Points oder Strukturüberbau meidet.

Assoziativ und zwanglos, voll von Wissen ohne den Zweck der Belehrung. Lehrend, aber nicht pädagogisch. Was sich jedem Ordnungsversuch entzieht, es in eine formlose Form zu bringen, zur Selbstorganisation. Wie eine solche Thermodynamik jenseits des Gleichgewichts als Denkweise funktionieren kann, hat Michel Serres in seinen fünf „Hermes“-Bänden ausprobiert, angedacht. Bei der Schweizerin Dorothee Elminger wird es zu so etwas ähnlichem wie Literatur. Es geht um die Ökonomie des Zuckers, um die des Sklavenhandels, um eine Patientin Ludwig Binswangers, die den Beginn der modernen Psychoanalyse markierte, um Nijinskis letzten Auftritt vor Publikum, um das Begehren des Ökonomen Adam Smith nach raffiniertem Zucker. Weitere Figuren und Situationen, die gestreift werden, sind Ursula K. LeGuin, Joseph Roth, die haitianische Revolution von 1791, die christliche Mystikerin Theresa de Avila und so vieles mehr, das sich umkreist, meist nicht berührt, aber immer miteinander kommuniziert. Das ist eine, wenn nicht die Möglichkeit, die Komplexität unserer Gegenwart zu verstehen und begreifen, ohne sie reduzieren zu müssen. Es ist auch ein Gegengift zum versteckten Zucker der Befindlichkeitsprosa des Millennial-Biedermeier – einer Generation, mit der Elminger nur das Lebensalter zu teilen scheint.

Filter Tapes 042Festival-Special: Heroines Of Sound 2021

HausmitteilungDas Filter ❤️ Sommer