Pageturner: Literatur im Juli 2020Charlotte Krafft, Niklas Maak, Laura Lam
1.7.2020 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteWer schreibt, der bleibt. Vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist der Pageturner und versorgt uns jeden Monat mit Reviews seiner literarischen Fundstücke. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Für den Juli empfiehlt unser Autor die avantgardistische Collage von Charlotte Krafft, die mit viel Cut & Paste der Literatur ein echtes Stück Fantasy-getränkte Vaporwave schenkt. Urbanistik-Experte Niklas Maak beleuchtet in seinem Debütroman derweil die Smart City, Geoengineering und den Plattform-Kapitalismus – unter dystopischen Vorzeichen. Und Laura Lam schickt unter dem dem Motto „People Are People“ Frauen ins All – in das Goldilocks-System. Es ist Sommer. Wir träumen uns weg und kommen vielleicht nicht wieder.
Charlotte Krafft – Die Palmen am Strand von Acapulco, sie nicken (2020)
Eine formal und inhaltlich so richtig abgefahrene Avant-Erzählungs-Collage aus Genre-Elementen der spekulativen Fantastik, SF, Fantasy, Horror und Psychothriller. Ja, das geht inzwischen auch auf Deutsch. Was Charlotte Krafft hier cut-and-paste zusammendebütiert, ist eine Art literarischer Vaporwave, die schamlos und geschmackssicher Genres und Ideen aller Ären abfotografiert und dann neu zusammensetzt – quer montiert. Nächstes musikalisches Äquivalent ist Fire-Toolz, das sonische Interwesen, das Kenny-G-artige Achtziger-Gebrauchsmusik mit Black-Metal-Vocals kombiniert, als wäre es die naheliegendste Sache der Welt. Was es vermutlich ist, denn Krafft macht dasselbe in Text mit Seherinnen, KI und Zombies, Zeitreisen und Selbstzerstörungsfantasien.
Der flapsige Tonfall erinnert an den frühen Dietmar Dath, nur dass seine Schreiberei gegen diese hellsichtigen Seltsamkeiten ziemlich (sehr) wie Spießerkram wirkt. Die gut postmoderne Verwirrung von High/Low-Kategorien, wenn genretypisches in und mit Kunst verquickt wird – das ist bei Krafft schon ziemlich eigen, höchstens Mark von Schlegell fällt mir da als nähere Verwandtschaft ein. Aber Krafft ist jünger, durchschlagskräftiger, instagrammatischer. Und weil hier so viele wahre und gute Sätze drinstehen, spielt die Metaebenenverwirrung keine wirkliche Rolle mehr. Also doch nicht so postmodern, wäre ja auch ganz schön oll sonst. Krafft hat dieselbe Art von selbstreferenzieller Wahrheitsfunktion, die auch Vaporwave im besten Fall mal hatte. Der milde glimmende Weisheitskern im Zitatmüll der Retro-Popkultur, die hier ausgebreitet wird, ist – amateurhermeneutisch dilettantisch zusammenverdächtigt – die allgegenwärtige Angst, der tiefere Sinn, der Humor in der Depression. Hoch ästhetisch, scary-funny und meta, bzw. meta-meta, dazu noch von zentralsymmetrischer Architektur von Loops und Schleifen ummantelt. Iterativ-selbstkonsistentes Erzählen. Beeindruckend und launig.
Niklas Maak – Technophoria (2020)
Der umsichtigste und wohl klügste Architektur-, Stadtplanungs- und Urbanismusexperte im deutschen Feuilleton, zumindest meine bevorzugte Meinungsquelle zum Themenkomplex Stadt im deutschsprachigen Raum, Niklas Maak, hat einen Roman geschrieben. Es ist wie kaum anders zu erwarten „Speculative Fiction“ geworden – mit Leitthemen, in denen sich Maak bestens auskennt: Smart City, Geoengineering und Industrie 4.0, Plattform-Kapitalismus. Schon die Ausgangslage ist clever gewählt: ein vergessenes utopisches Großprojekt der 1970er-Jahre, die Flutung der Qattara-Depression in Ägypten, die in naher Zukunft wiederaufgenommen soll – als Klimarettungsmaßnahme, potentiell billige Stromquelle und Wohlstandsbringer für Afrika. Nicht nur dieser retro-utopische Beginn erinnert an Sascha Rehs „Gegen die Zeit“, auch die Schreibweise. Handlung, Ideen und das große Ganze sind wichtiger als Psychologie und Charakterstudien.
Das ist aber nicht schlimm. Denn Maaks Exploration zeigt vor allem, was bei einem solchen disruptiven wie megalomanischen Megaprojekt im Kleinen, im persönlichen Nahbereich, alles so schiefgehen kann. Und die oft nicht ganz so smarten Digitalassistenten und Wohnhaus-KIs bergen ebenfalls massives Potential (auch humoristisch) zum jämmerlichen Versagen. Was als Alexa-Missverständnis noch harmlos und lustig ist, wird auf ein globales Niveau gehoben, wenn man sich in einem Klimarettungsprojekt auf steueroptimierte Internet-Konzerne und selbstlernende Maschinen verlässt, ganz schnell gemeingefährlich. Kann man ahnen, muss aber wohl doch immer wieder gesagt werden. Maak tut dies auf ziemlich unterhaltsame Weise. Manche der Episoden sind eher fiktionalisierte Essays als Romankapitel, aber auch das stört das denkanregende Gesamtbild nicht sehr.
Laura Lam – Goldilocks (2020)
Renegaten im Weltall, mal anders als üblich. Die rein weiblich besetzte Space Opera der kalifornischen Wahl-Schottin Laura Lam erzählt von der ersten Interstellar-Mission in einer nicht allzu fernen Zukunft, in der die ökologischen Probleme auf der Erde dramatisch zunehmen und die Besiedlung einer terraformierten Ersatzerde zu einer realistischen Überlebensoption für die Menschheit wird. Die Reise, erst konventionell zum Mars, dann mit Warp-Speed durch ein Wurmloch zu einem zehn Lichtjahre entfernten erdähnlichen Planeten im Goldilocks-System, beginnt mit einem Knall (die Frauen waren in der immer noch verdammt misogynen Zukunft nicht als Besatzung vorgesehen), geht dann aber sehr ruhig weiter. Und weil zu jeder Zeit gilt „People are People“ kommt ungefähr alles anders als geplant. Lam erzählt eine klassische Hard-SF-Story mit psychologischem und explizit feministischem Twist. Durch diesen Dreh fallen Lams teilweise etwas schlampig behandelten technisch-naturwissenschaftlichen Themen nicht wirklich ins Gewicht. Fans von Cixin Liu werden wohl etwas zu meckern finden, mir (Naturwissenschaftler von Beruf) war das eher egal. Denn die Geschichte entfaltet sich hier äußerst gemächlich und verdichtet sich ganz langsam von kleineren Vorfällen zu einem epischen Katastrophenausmaß, bis die allseitig beschworene Kosmonautinnensolidarität in Größenwahn, Gottkomplexen und ethisch-unmöglichen Entscheidungen untergeht. Hoffentlich ohne zu viel zu spoilern, ist das Ende dann ganz erstaunlich und erfreulich – antiklimaktisch, aber keineswegs enttäuschend. Im Gegenteil: Not with a bang but with a whimper. So muss das sein.