Pageturner: Literatur im Januar 2019Mark Fisher, Daniel Warner, Anna Minton, Alberto Duman, Malcolm James und Dan Hancox
4.1.2019 • Kultur – Text: Frank Eckert, Illustration: Susann MassuteWer schreibt, der bleibt. Das gilt vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist unser Pageturner. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Dieses Mal verbindet die Musik als eine von zahlreichen Klammern die drei vorgestellten Bücher. Auf nicht weniger als 800 Seiten wird das umfangreiche Werk des viel zu früh verstorbenen Mark Fisher aufgearbeitet, Daniel Warner widmet sich auf knappen 200 Seiten der komplexen Geschichte der elektronischen Musik, und das Herausgeber-Quartett Anna Minton, Alberto Duman, Malcolm James und Dan Hancox nutzt die Musik als Metapher, um den Wandel des Londoner Ostens aufzuarbeiten – zwischen Gentrifizierung, Olympia und Abriss-Playlist.
Mark Fisher – K-Punk (Repeater Books)
Mark Fisher hat zu Lebzeiten nur drei dünne Büchlein veröffentlicht. Das Gros seiner Texte erschien auf seinem noch immer frei zugänglichen Blog K-Punk und in diversen anderen Blogs oder Zeitschriften wie The Wire. Eine Auswahl dieser Arbeiten ist nun in goldgeprägter Buchform veredelt. Auf über 800 eng bedruckten Seiten werden Fishers weitläufige kulturelle Interessen (Romane, Musik, Filme, TV-Serien, Dokumentationen) und existenzielle Baustellen (Depression, Hauntology, Kapitalismus, Zugehörigkeit) anhand einiger Schlüssel- und Nebentexte programmatisch aufgefächert. Das reicht von verschrobenen Deklarationen über punkige Rezensionen zu höchst elaborierten Analysen und tief gefühlten wie wundervoll geschriebenen Rückblickstexten.
Da es kaum möglich war und ist, die Übersicht zu behalten über alles was Fisher geschrieben hat, sind hier definitiv sogar für eifrige Leser*innen seiner Bücher und seines Blogs noch Entdeckungen zu machen, etwa die liebevollen Texte über Siouxsie and the Banshees und The Cure. Spannend ist auch zu sehen, wie sich bestimmte Obsessionen (J.G. Ballards „The Atrocity Exhibition“, Scripted Reality TV-Shows, die ersten drei Platten von The Fall, ehemalige Zukünfte, Hantologie und das Label Ghost Box) in verschiedenen Häutungen und Aggregatzuständen über die Jahre immer wieder in seine Texte schmuggeln.
Nicht weniger interessant ist es, anhand der Texte Fishers Entwicklung als Schreiber und Denker zu verfolgen. Der Blog K-Punk (was unter anderem für Cyberpunk mit deutschem K wie in Kybernetik steht) etwa entstand kurz nach der Jahrtausendwende aus dem interdisziplinären Zusammenhang der „ccru“, welchem Musiker, Künstler, Journalisten, Lehrer wie Fisher und einige Verkünder des Spekulativen Realismus angehörten und aus dem nicht zuletzt das geschätzte Label Hyperdub hervorgegangen ist. So sind manche frühen Texte an der Norbert und Oswald Wienerschen Denke der Kybernetik und Kybernetik 2. Ordnung orientiert und zudem noch schwer mit Zitaten der „French Theory“ versetzt. Fishers Denken war offenbar nicht immer so unabhängig und eigenwillig, wie es seine späteren Bücher suggerieren. Manche seiner Analysen der frühen Noughties folgen noch recht eng seinen damaligen Vorbildern Baudrillard, Lacan und Žižek. Die in diesen Texten praktizierte Schreibweise – zitativ, akademisch aber ebenso auch apodiktisch und punkig derb, ein wenig wie hierzulande Diedrich Diederichsen in seiner frühen „Theoriephase“ – verliert sich aber mit den Jahren, und Fishers Konzepte und Ideen wurden komplexer, origineller und vor allem präziser und trennschärfer. Das kommt allen Textgenres zugute, besonders aber seinen dezidiert politischen bis polemischen Texten. So prägnant wie Fisher hat bislang noch niemand die Zusammenhänge von Depression, Identität und Kapitalismus dargelegt. Dass er diese Zusammenhänge nicht mehr ertragen hat, ist im offensichtlichsten und wahrsten Sinne tragisch. Seine oft erstaunlich optimistischen Texte sind es kein Stück.
Daniel Warner – Live Wires: A History of Electronic Music (Reaktion Books)
Die Geschichte der elektronischen Musik und all ihrer Seitenaspekte und Anekdoten auf knapp 200 Seiten: Eine Herausforderung, die der US-amerikanische Musikologe Daniel Warner sportlich meistert. Er versucht alles, wirklich alles, was irgendwie wichtig sein könnte, unterzubringen oder zumindest am Rande zu erwähnen und bleibt dadurch oft zwangsläufig oberflächlich. Dennoch ist seine umfassende Darstellung der qualitativ und quantitativ höchst unterschiedlichen Arten irgendwie elektronischer oder elektrisch verstärkter Musikproduktion durchaus aufschlußreich. Er zeigt vor allem wie zwei Herangehensweisen – die „reproduktiven“ (Tape-Manipulationen, Turntablism, Mikrofonie, Filter, Modulation, Editing, Loops und Samples) und die „synthetischen“ (Synthesizer, analoge und digitale Klangerzeuger) – Sound zu erzeugen und zu manipulieren, separat entstanden, in bestimmten Techniken und Musikgenres zusammen konvergierten und wieder voneinander entfernten.
Eine Entwicklung, die sich in der „Analog vs Digital“-Debatte wiederholt hat und bis heute anhält, in beide Richtungen: etwa in Rolands TR-808 (synthetisch und analog) vs. Linn Drum LM-1 (Sample-basiert, also reproduktiv und digital), was sich in der Welt der Musiksoftware mit z.B. Ableton Live und MAX/MSP wieder integrierte. Warner bleibt also auf der Ebene der Benutzeroberfläche und der anekdotischen Erzählung, geht technisch nicht ins Detail. Was wohl auch kaum möglich wäre in der genealogischen Fülle bei der gegebenen Seitenzahl. Wie elektronische Musikproduktion physikalisch-technisch und praktisch funktioniert, darüber steht hier kaum etwas. Wie die elektr(on)ischen Techniken allerdings in und auf die Produktion, das Machen, Schreiben, Spielen und Reproduzieren von Sound wirkten und wirken, darüber erfährt man eine Menge. Zusammen mit meist persönlich gehaltenen Interviewfetzen und zahlreichen Zitaten ergibt das eine grundsympathische und angenehm leichte Lektüre, die eventuell zum Weiterforschen animieren mag. Es ist aber definitiv eine Lektüre für Nichtprofis. Wer im Wohnzimmer schon die Buchla-Burg neben der ARP-Schrankwand stehen hat, lernt hier eher wenig.
Anna Minton, Alberto Duman, Malcolm James, Dan Hancox (Ed.) – Regeneration Songs: Sounds of Investment and Loss from East London (Repeater Books)
Die Themse-Schleife im Osten Londons ist eine urbane Gegend, die sich in den vergangenen 30 Jahren fundamental verändert hat. Allerdings nicht, wie sonst in Innenstadtvierteln üblich, schleichend durch Gentrifizierung mit eher unauffälligem Austausch der Bevölkerung, sondern durch stadtplanerische „Regeneration“. Und dieser Begriff meint eben nicht Altbausanierung, Zwischennutzung oder Nachverdichtung, sondern Abbruch und Neubau im größtmöglichen Maßstab. Aus den ehemals von urbritischen Arbeitersiedlungen, der lokalen Konzentration neu angekommener Zuwanderer und sozialem Wohnungsbau geprägten Vierteln zwischen den Royal Docks, Newham und Hackney wurde in den späten 1980er-Jahren der „Arc of Opportunity“ – wobei Opportunity hier vor allem im merkantilen Sinne zu verstehen ist. So wurde versucht (nicht zuletzt mit Hilfe der Baumaßnahmen zu Olympia 2010), aus dem ehemals vernachlässigten und berüchtigten London-NE eine Spielwiese für Investoren und Start-Ups zu machen. Allerdings blieben dabei Teile der alten Bebauung (hier finden sich konzentriert einige der berühmtesten Exponate des Brutalismus wie der Balfron Tower und die teils zu einem Museum umgewandelten und ansonsten abgerissenen Robin Hood Gardens) und der vormaligen Bewohner zurück, die einen eigenwilligen und heute selten gewordenen Kontrast zu den schicken Neubelegungen bilden.
Der fette Sammelband „Regeneration Songs“ ist aus einem Videokunstprojekt heraus entstanden, das sich mit dem Prozess dieser Stadtentwicklung und den Auswirkungen auf die alte und neue Bevölkerung beschäftigt. Der Ansatz des Buches ist schon von den Herausgeber*innen her interdisziplinär. So ist Minton Architektin, Duman Doku-Filmer und Hancox Musikjournalist (von ihm stammt „Inner City Pressure“, das faktische Standardwerk über Grime). Die einzelnen Texte sind dementsprechend weit gefächert, auch was die Qualität angeht. Von Urban-Explorer-Reportagen, Stadtplanungstheorie über mikrosoziologische und makroökonomische Studien in Essayform bis zu künstlerischen Interventionen ist da alles dabei – und konkrete concrète-Lyrik. Dazu gibt es den Soundtrack von ortsansässigen Musiker*innen auf Bandcamp als Gratis-Download. Stilistisch geht das von vorgelesenem Text mit Improv-Begleitung über den Litauischen Chor des Newhamer Gemeindezentrums zu Grime, UK-Funky und verwandten elektronischen East-London-Styles. Und natürlich mehr oder minder ambiente Field Recordings aus dem „Arc of Opportunity“.