Pageturner – Literatur im Januar 2022Kevin Junk, Bryan Washington, Chang-Rae Lee
6.1.2022 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteFrank Eckert, der Pageturner der Filter-Redaktion, liest auch 2022 nicht nur weiter, sondern schreibt seine Meinungen, Einschätzungen und Bewertungen zu den Büchern konsequent auf. Ob dringliche Analysen zum Zeitgeschehen oder belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Im Januar: Rave als Alltag von Kevin Junk, das in zusammenhängende Kurzgeschichten verpackte Coming Of Age in Texas von Bryan Washington und die Weltreise eines US-Amerikaners, der für für viele US-Amerikaner gar kein US-Amerikaner ist – von Chang-Rae Lee.
Kevin Junk – Fromme Wölfe (Querverlag)
Geschichten aus der Nacht, aus einer gar nicht lange entfernten Zeit, die noch in der Erinnerung brennt, zumindest soweit es überhaupt eine gibt.
Die Figuren, die der Berliner Japanologe, Lyriker und LGBTQ- Aktivist Kevin Junk in seinem Roman aufeinander treffen lässt, sind tatsächlich „Fromme Wölfe“, wollen an etwas glauben (Geborgenheit, Liebe, Glück, sowas) und sind doch von einem Verlangen angetrieben, von einem Lebenshunger, der jenseits aller Glaubenssysteme existiert. Sie sind alle auf die eine oder andere Art queer, sie treffen sich, küssen sich, trennen sich, suchen und finden sich, verlieren sich wieder, selbst und gegenseitig in der Nacht, in der Party.
Die Motivationen sind dabei kaleidoskopisch verschieden. Hartes Feiern als temporäre Flucht aus der homobourgeouisen Pärchenidylle, als normale Druffi-Routine, als Urlaub von sich, als Verstärker, um noch etwas zu fühlen, als Möglichkeit, allein zu sein unter Menschen, sich zu verbinden, so flüchtig die Verbindung auch sein mag. Rave als Technologie des Selbst und als Lebensunterhalt, als Möglichkeit der Beteiligung, als Ticket in die Welt von Kunst und Musik – egal wie peripher der Anteil an der Party auch immer sein mag. Auf der Suche nach der großen Liebe, dem schnellen Fick und dem nächsten Kick. Es sind sehnig-muskelbepackte, aber substanzhagere Körper, analytische, selbstreflektierte wache Geister (das unvermeidliche Druffi-Gelaber bleibt uns zum Glück weitgehend erspart), die sich hier umkreisen wie Satelliten, die von diversen Anziehungen und Fliehkräften in tangentiale Bewegung versetzt werden.
Es ist die mal ganz frische, mal gut eingeübte Choreographie der Nacht. Wie das im Roman zusammengefügt ist, birgt nicht gerade wenige Wiedererkennungsmomente und Wahrheitseffekte. Ich scheue mich, hier den Begriff „authentisch“ zu verwenden, denn darum geht es nicht. Selbst die Motive, das Warum des Feierns, ist nur ephemer und hintergründig, die Gründe ergeben sich vielmehr auf dem Weg. Es ist schon das verdichtete, abstrahierte und künstlerisch verarbeitete „Wie“ der Party, der Nacht, welches sich in aller schroffen (aber doch reflektierten) Direktheit einfach sehr oft irgendwie richtig anfühlt. Und das ist schon irre viel für das, was ein Stück Literatur erreichen können will und kann. Film und bildende Kunst tun sich da noch viel schwerer. Eins zu eins ist lang vorbei. „Fromme Wölfe“ ist tatsächlich ein interessanter Fingerzeig, wie eine zeitgemäße Erzählung der Nacht aussehen könnte.
Bryan Washington – Lot (Riverhead Books)
Das „Lot“ des texanischen Feuilletonisten und Literaten Bryan Washington gibt sich als Sammlung von „Stories“ aus, was es definitiv auch darstellt, denn die Kapitel lassen sich für sich genommen als abgeschlossene Kurzgeschichten lesen. Spannender ist es allerdings, das Buch als zusammenhängenden Roman zu lesen. Sämtliche Stories passieren um einen namenlosen Erzähler herum, der unmittelbar wiedergibt, was ihm passiert – oder im O-Ton, was ihm von anderen erzählt wird. Das Patchwork der Geschichten fügt sich mit etwas Übersicht zu einer Karte der ärmeren, von People of Colour und Latinx bewohnten Viertel von Houston. Eine Karte, deren „Points of Interest“ die Knotenpunkte von Familie, Herkunft, prekärer Arbeit, Gewalt und Gangs darstellen. Und die wiederum überlagert und unterwandert wird von der klandestinen Kartierung queeren Begehrens in einer nicht gerade freundlich gesinnten Umgebung.
Also Coming-of-Age unter harten Umständen, zwischen häuslicher Gewalt, Gang-Gewalt, Sexarbeit, Abhängigkeiten und familiärem Unverständnis für einen unsicheren Teenager vor dem Coming-Out. Die Gewalterfahrungen der Figuren, deren Leben das des Erzählers kreuzen, sind vielfältig und meist ähnlich traurig – aber selten ganz ohne Hoffnung. Familie, sei sie nun biologisch oder aus Wahlverwandtschaften zusammengesetzt, ist ebenso fragil wie Freundschaft metastabil. Und Solidarität muss man sich auch erst mal leisten können. Dennoch gibt es zarte Momente der Schönheit und des Vertrauens, gelegentlich sogar beinahe magisches Glück. Auswege bieten sie alle nicht, aber die Möglichkeit einer Verbindung, wie Literatur.
Chang-Rae Lee – My Year Abroad (Riverhead Books)
Der USA-Amerikaner Chang-Rae Lee erzählt die Räuberpistole vom amerikanischen Traum und erfüllt dazu noch die Form der „Great American Novel“ mit Protagonist*innen, die nach der Vorstellung der alten Rassisten und neuen Identitären „beinahe-weiß“ sind, Viertel- oder gar Achtel-„Asiaten“, die aber doch gerne gefragt werden, wo sie denn wirklich herkommen. Diese struggeln bei ihrer Suche nach dem materiellen und immateriellen Glück in Form von großem Geld und Einfluss mit dem Erbe ihrer Herkunft, Bildung, Ausbildung – und vor allem natürlich ihrer Familien.
Lee erzählt – ähnlich wie Richard Ford, John Updike oder Don DeLillo – von der Vorstadt aus, von den gut situierten Wohnsiedlungen der Mittelstädte, wo die neugegründeten Nuklearfamilien nach dem College hinziehen. Zum Glück teilt Lee die All-American Sport-Fixierung der genannten GAN-Autoren überhaupt nicht, das macht das Mittelklasseleben-Leseerlebnis sofort um einiges ansprechender. Der antriebslose wie unauffällige aber gutmütige Student Tiller will da einfach nur weg. Aber wohin, das weiß er auch nicht so recht. So kommt ihm das Angebot des charismatischen Entrepreneurs Pong, in dessen Frozen-Yogurt-Shop Tiller einen Ferienjob als (klar) Tellerwäscher runter reißt, gerade recht: Pong als Assistent, Lehrling, Protegé auf einer Reise nach China zu begleiten, um in den dortigen Zulieferbetrieben nach dem Rechten zu sehen und um Investoren zu werben. Was wie eine klassische Geschäftsreise beginnt, entwickelt sich zu einem aberwitzigen, ein Jahr dauernden Trip um die Welt, der Tiller mit der deutlich älteren Val und ihrem halbwüchsigen Sohn, einem Foodie-Savant im Zeugenschutz im amerikanischen Suburb-Nirgendwo von „Stagno“ New Jersey enden lässt. Und mit einigen neuen Erkenntnissen über sich und die Welt und mit der großen Liebe, eventuell.
Lee erzählt in diesem Rahmen, der ja schon aufregend genug ist, eine Geschichte von der Globalisierung. Von Ernährung und Essen, von Supply-Chain-Ökonomie und Migration, von Heimat und Identität, all den großen Themen dieser Zeit, aber auf unterhaltsame clevere Art. Es bereitet Lee sichtlich große Freude, das amerikanische Englisch auszureizen, selten gehörte Worte wie „gallant“ zu droppen oder eigene zu erfinden wie „uberant“. Ein Doppelspiel sprachlicher Identität, da Lee selbst Native Speaker ist. Der Roman ist tiptop konstruiert und läuft auf zwei Zeitebenen und Geschwindigkeiten, rasender Stillstand auf der Reise und unterschwellige subtile Bewegung in der stagnierenden „Stagno“-Zeit. Ein Roman-SUV, der zugleich spannend, sprachverliebt und episch ist, ohne zu langweilen. Dazu gehört schon eine Menge gutes Handwerk und Kunstfertigkeit. Lee lässt es beinahe leicht und spielerisch klingen. Würde mich sehr wundern, wenn da nicht schon eine Mini-Serienverfilmung ansteht.