Pageturner: Literatur im Februar 2019Adolf Muschg, Yōko Tawada und Philipp Weiss

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Wer schreibt, der bleibt. Das gilt vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist unser Pageturner. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Diesen Monat sind es drei Romane, in denen Japan eine tragende Rolle spielt: Adolf Muschg stellt eine unmögliche Liebesgeschichte vor die Reaktorkatastrophe von Fukushima, Yōko Tawada ist in ihrer Gesellschaftsdystopie schon bei den Langzeitfolgen des Unfalls, und Philipp Weiss beschäftigt sich in seinem fünfbändigen Box-Set mit der Transformation der Welt durch den Menschen.

Pageturner - Adolf Muschg

Heimkehr nach Fukushima (Affiliate-Link)

Adolf Muschg – Heimkehr nach Fukushima (C.H. Beck)

Deutschsprachige Schriftsteller (ja, die männliche Form ist hier Absicht) schreiben gerne mal einen Roman oder zwei über das ach so exotische faszinierende Japan, nachdem sie es mal besucht haben. Das Verhältnis des Schweizers Adolf Muschg zu dem Land unserer Vorstellungen ist weniger oberflächlich. Er hat eine japanische Frau, hat dort gelebt und kennt die klassische (Kabuki-Theater) und moderne (Manga/Anime) japanische Kultur etwas tiefgehender als üblich. Ein Roman von Muschg über die Folgen der Tsunami- und Nuklearreaktorkatastrophe in Fukushima, verpackt in eine unmögliche Liebesgeschichte, hört sich also erstmal nach einer guten Idee an. Diese Geschichte, ein fernes Echo von „Hiroshima Mon Amour“, ist auch durchaus gelungen und von einer zarten Schönheit – die tiefsitzende und leider auch sehr typisch japanische, aktive Ignoranz gegenüber der Strahlung ist von erhabener, gelassener Tragik.

Was in dem Roman sehr klar zutage tritt ist, dass die sozialen Folgen der Verstrahlung, die Entwurzelung und Umsiedlung der Menschen einer ganzen Region nicht weniger schwer wiegen und wohl noch schwieriger zu beheben sind als die biologisch-technischen. Leider hatte Muschg dann noch die Idee, aus dem Roman eine Hommage an seinen Lieblingsschriftsteller Adalbert Stifter zu machen. Was sich in einer beinahe endlosen Reihung von Stifter-Zitaten und eine Annäherung an dessen biedermeierlich entschleunigten, altväterlichen Stil niederschlägt, und bei Muschg dann zu einer der literarisch miserabelsten Sexszenen führt, die ich je gelesen habe. Ohne die zitative Bildungshuberei in High- (Lateinische Sprüche werden nicht übersetzt) und Low-Culture (auch auf Mangas, Animes und Graphic Novels wird angespielt) wäre das ein richtig großes Buch. So verliert sich eine sprachlich wunderbar feinsinnige Erzählung immer wieder in betulich anstrengender Altmännerkonversation.

Pageturner - Yoko Tawada

Send bo-o-te (Affiliate-Link)

Yōko Tawada – Send bo-o-te (Konkursbuch)

Eine weitere deutsch-japanische Reflexion über die Reaktorkatastrophe von Fukushima und ihre vor allem sozialen Folgen. Die japanische Sprachwissenschaftlerin, Prosaautorin und Lyrikerin Yōko Tawada, die seit mehr als 30 Jahren in Deutschland lebt, legt ihre Geschichte als Dystopie an. Nach einer nicht näher erklärten (und eventuell globalen) Kontamination können japanische Firmen keine Produkte mehr ins Ausland verkaufen und Japaner nicht mehr ausreisen. Japan isoliert sich zusehends in einen Zustand, der an die Epoche des Tokugawa-Shogunats erinnert, inklusive der Reinstallation des Kaisers und einer kulturellen Restauration, in der nur das genuin Alt-Japanische noch zählt.

In dieser bedrückenden Atmosphäre, in der kaum ein Kind das Erwachsenenalter erreicht, aber die Alten trotz Krankheiten und Genschäden nicht mehr sterben, arbeitet Tawada die typische japanische Reaktion auf Katastrophen und Übel aller Art heraus: die spezifische Mischung aus Ignoranz, Nicht-wissen-Wollen, resignativer aber gut gelaunter Stoik und würdevoller Akzeptanz des nicht Änderbaren. Dass die Schilderung dieser extrem hoffnungslosen und mindestens so deprimierend wie Cormac McCarthys „The Road“ daherkommenden Zukunft kein bisschen düster oder apokalyptisch wirkt, liegt an Tawadas Komplettverzicht auf Pathos und Melodrama. Und vor allem an ihrer ungebrochenen Lust an japanisch-deutschen Sprachspielen und forcierten Missverständnissen, ihrer immensen Freude an seltsamen deutschen Worten und Namen wie Mettmann. Oder japanischen wie „offline“, das sich bizarrer Weise aus den Kanji-Symbolen für Ehrenhaft, Frau, nackt und Schamlosigkeit zusammensetzt. So wirkt das Elend leicht, fast heiter – und packt doch mit aller Kraft zu. Ein erstaunlicher Roman. Ein unendlich trauriges und doch zartes, lebenskluges Buch. So weise und sanft wie die todgeweihten Kinder, die es bevölkern.

Philipp Weiss – Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen (Suhrkamp)

Ein Box-Set im renommierten Suhrkamp Verlag aus fünf jeweils romanlangen Bänden, fünf maximal verschiedene Erzählstile und der Anspruch, eine weltumspannende Bestandsaufnahme des Anthropozän zu liefern: An auktorialem Selbstbewusstsein scheint es dem Wiener Debütanten Philipp Weiss nicht zu mangeln. Die fünf Texte beschäftigen sich im weitesten Sinne mit der Transformation der Welt durch den Menschen. Sie spielen sehr lose verknüpft vom Arkaden-Paris des 19. Jahrhunderts bis ins heutige Japan. Den verschiedenen Erzählstimmen und Protagonist*innen der fünf Bände sind jeweils eigene Formate und Schreibgenres zugeordnet. So beginnt es mit einem tagebuchartig enzyklopädischen Briefroman, der die Coming-Of-Age-Geschichte einer wohl behüteten Pariser Großbürgertochter erzählt. Deren starker Gerechtigkeitssinn und Freiheitsdrang führt sie in die kurzlebige Heterotopie der Pariser Kommune und die Hölle ihrer gewaltsamen Niederschlagung, auf die Wiener Weltausstellung, als eine der ersten europäischen Frauen überhaupt in das sich rapide industrialisierende Japan der Meiji-Ära, und nach diversen kulturellen und persönlichen Enttäuschungen als Gletscherforscherin in die französischen Berge.

In diesem Teil der Geschichte sind die Bezüge zu Technologie und Ökologie noch eher randständig und unterschwellig. In den anderen Büchern werden sie deutlicher. Das zweite Buch verfolgt die Spuren der Ururenkelin der ersten Protagonistin, die an der Modellierung des globalen Klimas arbeitet, auf der Achse Paris-Wien-Tokio als moderne Reiseliteratur. Weiter geht es mit dem Transkript eines Interviews mit einem von der Fukushima-Reaktorkatastrophe traumatisierten japanischen Jungen bis zum hyperrealen traumzeitlichen Manga. Der Kern der Gesamterzählung liegt in den „Cahiers“ der Klimaforscherin, einer ungefilterten Mischung aus wissenschaftlichem Laborheft, philosophischer Aphorismensammlung und privat obsessierendem Notizbuch. Mit seinen Anklängen an Fernando Pessoas „Buch der Unruhe“ ist dieser Band der stilistisch avancierteste und etwas schwerer greifbar als der Rest. Er steigt aber auch am tiefsten in die Thematik ein, technisch wie psychologisch.

Auch wenn immer wieder clever eingeflochtene Anknüpfungspunkte zwischen den einzelnen Geschichten auftauchen, bestehen sie für sich. So stellt für sich genommen jeder der fünf Texte schon eine okaye bis sehr gute und mehr oder minder experimentelle Erzählung dar, gerne von altmodischen Illustrationen und typographischen Spielereien optisch aufgewertet. Zusammen ist es tatsächlich ein panoramisches Porträt der Jetztzeit und darin hypermodern wie auch altmodisch – es handelt ja immer noch um ein gedrucktes Buch. Thematik, Form und Anspruch der Texte bringen ein gewisses Maß an Wissensprotzerei und stilistischer Angeberei mit sich, die hin und wieder etwas präpotent rüberkommt, aber im Gesamtbild nicht wirklich stört. Und klar, es gibt Vorläufer (Pessoa, Raymond Roussell) und Zeitgenossen (Tom McCarthy, Danielewskis „The Familiar“, eventuell sogar Mitchells „Cloud Atlas“), aber spontan wüsste ich kein anderes deutschsprachiges Buchprojekt, das sich stilistisch und inhaltlich so viel zutraut und (meistens) auch liefert.

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