Pageturner: Literatur im Februar 2020Guillaume Paoli, Tim Crane, The School Of Life

pageturner buchkolumne februar 2020

Wer schreibt, der bleibt. Vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist der Pageturner und versorgt uns jeden Monat mit Reviews seiner literarischen Fundstücke. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Für den Februar empfiehlt er Guillaume Paolis Analyse der französischen Gelbwesten-Bewegung „Soziale Gelbsucht“, Tim Cranes atheistischen Versuch, „Die Bedeutung des Glaubens“ zu verstehen und schließlich „What Is Culture For?“, ein kleines Bändchen Lebenshilfe, in dem versucht wird, der Wertschätzung der europäischen Hochkultur auf die Schliche zu kommen.

Pageturner Februar 2020 Guillaume Paoli - Soziale Gelbsucht Cover

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Guillaume Paoli – Soziale Gelbsucht (2019)

Der Mitgründer des Polit/Kunst Kollektivs „Die Glücklichen Arbeitslosen“ hat ein dringend nötiges Buch über die Gilets Jaunes geschrieben. Nötig, weil es die Gelbwesten nicht von vornherein als rechten und antisemitischen Wutbürger-Mob diffamiert, wie es viele Linke getan haben, aber genauso. wenig als unpolitischer wie gewaltbereiter Pöbel, wie von der politischen Elite in Frankreich. Der bemerkenswerteste, meist verschwiegene Aspekt der Aktionen der GJ ist die Selbstorganisation und Selbstermächtigung derer, denen sonst nicht zugehört wird. Sie wollen anders als in den etablierten Protestmodellen weder eine Revolution anzetteln, noch von den Brotkrumen der neoliberal-grünen „besseren Welt“ zehren müssen. Gegen die Vorwürfe und Verleumdungen von allen Seiten haben die GJ gezeigt, dass eine kollektive Selbstermächtigung möglich ist, die weder einem Links- noch einem Rechtspopulismus verfällt (zumindest größtenteils).

Die vermeintlich banalen Forderungen nach besseren Lebensbedingungen wie etwa dem Streichen einer geplanten Benzinsteuer, das die Proteste ursprünglich auslöste, hat unverhältnismäßig extreme Reaktionen ausgelöst. Auf Seiten der Staatsmacht wie bei den urbanen linksliberalen Intellektuellen, die offenbar ihre öffentliche Meinungshoheit gefährdet sahen. Paoli betont, dass die Denunziations- wie auch die Vereinnahmungsversuche z.B. antisemitischer oder fremdenfeindlicher Art von den GJ intern geblockt und aufgelöst wurden – und wiederum waren es nur sehr sehr wenige linke Intellektuelle, die das von Beginn an erkannten und die GJ ernst nahmen und unterstützten, wie etwa Annie Ernaux, Edouard Louis und Didier Eribon, alle ebenfalls provinziell-armer Herkunft.

Die spannende Frage, warum in Deutschland nichts passierte, kann Paoli nicht wirklich beantworten, aber in einem Land, in dem nur demonstriert wird wenn Feine Sahne Fischfilet ein Gratiskonzert dazu geben, vielleicht normal. Die GJ haben jedenfalls gezeigt, dass es Möglichkeiten des gemeinschaftlichen Widerstands gibt, die jenseits von autoritärem Populismus spielen, und die nicht auf die Revolution des „kognitiven Proletariats“ warten wie etwas Franco „Bifo“ Berardi, denn auf die wird man noch lange warten. Der wichtige Punkt ist, dass die GJ die soziale Frage neu gestellt haben. Die Heftigkeit der Reaktionen und die Unfähigkeit der etablierten Widerstandsformen sie zu stellen, zeigt, wie explosiv sie noch immer ist. Ich mag Paoli und seine (zu) plakativen Aktionen nicht besonders, aber hier ist er tatsächlich auf einen wunden Punkt gestoßen, den näher zu betrachten lohnt.

Pageturner Februar 2020 Tim Crane – Die Bedeutung des Glaubens Cover

Die Bedeutung des Glaubens (Affiliate-Link)

Tim Crane – Die Bedeutung des Glaubens (2019)

Der britische Denker Tim Crane ist einer der prominentesten Vertreter der „Theory of Mind“, die versucht, Philosophie mit neurobiologischen Erkenntnissen der Hirnforschung zu verknüpfen. Er gehört damit zu einer sich weltweit immer noch in einer deutlichen Minderheit befindenden Gruppe von Menschen, die mit Max Weber „religiös unmusikalisch“ sind – sowohl was das Temperament, wie auch den transzendentalen Impuls des Glaubens an eine höhere, den menschlichen Verstandeshorizont überschreitende und daher rational nicht begründbare Ordnung angeht. Crane beschreibt sich selbst als pessimistischen Atheisten, der akzeptiert, dass die Welt komplett entzaubert ist und daher jede(r) versuchen sollte, das beste daraus zu machen (für sich und alle anderen). Eine verborgene göttliche Ordnung gibt es ebensowenig wie ein Leben nach dem Tod oder eine andere/bessere Welt, die auf einen warten würde.

Bleibt also nur das Hier und Jetzt um ein würdiges, gutes, erfülltes Leben zu führen.
Crane versucht aufrichtig und empathisch zu verstehen, warum es Religion gibt, und warum wesentlich mehr Menschen ihrem Glauben mehr trauen als wissenschaftlicher Rationalität in Form von falsifizierbaren Hypothesen und systematischem Zweifel. Crane geht im Gegensatz zu den „Neuen Atheisten“ wie Richard Dawkins, Daniel Dennett oder Christopher Hitchens nicht davon aus, dass Glauben eine Art temporäre geistige Umnachtung oder ein mentales Entwicklungsdefizit ist, welches sich durch logische Argumentation beseitigen ließe. Im Gegenteil, denn solche Missverständnisse im Register, in unvereinbaren Kategorien des Denkens treffen grundsätzlich immer nur auf gegenseitig komplettes Unverständnis.

Ein ernsthafter Versuch den religiösen Impuls zu verstehen, muss die psychologischen und sozialen Aspekte der Religionen ernst nehmen, die gestiftete Gemeinschaft, die geteilte Kultur, den moralische Kompass, den Religionen eben auch funktional zur Verfügung stellen. Diese Erfüllung starker menschlicher Grundbedürfnisse lässt sich nicht einfach von den religiösen Inhalten trennen, so dass die Denunziation von Glauben als kindlichem Aberglauben grundsätzlich ins Leere läuft. Das Minimalziel Cranes ist so eine gegenseitige Toleranz von Theismus und Atheismus. Eine Toleranz, „deren Ziel nicht Wahrheit, sondern Wahrung des Friedens“ ist, nach John Gray. Der nächste, wesentlich schwerere Schritt wäre ein echter Dialog. Crane hat zwar keine Rezepte für ein erfolgreiches gelingen eines solchen Dialogs parat, aber er versucht immerhin einen zu beginnen.

Pageturner Februar 2020 The School Of Life

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The School of Life – What Is Culture For? (2019)

Die kleinen Ratgeber des „The School of Life“-Kollektivs sind für mich eine der raren akzeptablen Formen von Lebenshilfebüchern. In der aktuellen Ausgabe geht es um Kultur, spezifisch europäisch-klassische Hochkultur, die zwar allseits wertgeschätzt wird, aber meist auf eine theoretische distanzierte Weise, die der ursprüngliche Funktion der Kunst sowie ihrer emotionalen Intensität oft diametral entgegensteht. So sind zum Beispiel Trauer als Inhalt und Auslöser der Kunst, und Katharsis als Funktion weitgehend verloren gegangen.

„What Is Culture For?“ gibt keinen kulturhistorischen Abriß der Sinne und Zwecke von Kunstwerken, sondern je ein paar Beispiele aus Musik, Literatur, bildender Kunst und Theater von Aischylos bis Hiroshi Sugimoto, die dazu dienen sollen, Gemüts- und Geisteszustände zu erklären, die von Kunst animiert werden können. Mitgefühl, Hoffnung, Aufmunterung, Wissen, Erfahrung. Was so erstmal etwas abstrakt und luftig klingt, ist dabei jederzeit in Melancholie geerdet, einem wunderschönen, hier beinahe elegisch-wehmütigen Ton. Die Texte überzeugen gerade darin, dass sie nicht polemisch sind, nicht auf den Punkt kommen, nicht mit aller Macht überwältigen wollen.

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Mix der Woche: Die Orakel, Radio Transmission #01/04Oliver Hafenbauer im Ambient-Modus