Pageturner – Literatur im Dezember 2022Berit Glanz, Dietrich Brüggemann, Tom McCarthy
5.12.2022 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteMöglichkeit und Praxis der virtuellen Solidarität. Eine fast vergessene Apokalypse. Und Abschweifungen ohne Abschluss: Die drei Romane für den Dezember aus Frank Eckerts nicht versiegendem Lesedrang liefern Klarheit in unserem schummrig-verwaschenen Weltverständnis. Berit Glanz widmet sich in „Automaton“ der prekären Gig-Ökonomie. Tatort-Autor Dietrich Brüggemann beleuchtet in seinem Roman-Debüt „Materialermüdung“ den Verwirrungen des Kulturbetriebs. Und Tom McCarthy balanciert in seinem aktuellen Werk „The Making of Incarnation“ einen guten Mittelweg zwischen literarischem Können und künstlerischer Extravaganz. Kleine Dinge, große Effekte. Oder andersherum.
Berit Glanz – Automaton (Berlin Verlag, 2022)
Die fiktionalen Texte von Berit Glanz beschäftigen sich mit dem sehr aktuellen Themenkomplex von Social-Media-Plattformen, Industrie 4.0 und Automation, Algorithmen und KI. Ihr zweiter Roman „Automaton“ widmet sich den Verlierer:innen dieser Entwicklungen, den Internet-Billiglöhnern und Clickworkern aus dem neuen Hilfsarbeits-Prekariat, das den oft traumatisierend brutalen Dreck der Plattformen wegräumt oder an Datensätzen für KI-Training dabei mitwirkt, den eigenen Job langsam aber sicher abzuschaffen. Die Plattform heißt hier zwar „Automa“, die Ähnlichkeit mit real existierenden Anbieter:innen solcher Services der Gig-Economy ist allerdings unverkennbar.
Für Tiff, alleinerziehend und im täglichen Leben von Angststörungen massiv eingeschränkt, ist die Arbeit als „Automaton“ am Rande des Existenzminimums unter diversen Zumutungen natürlich auch nicht gerade ein Traumjob, aber angesichts der Umstände immerhin überhaupt machbar. Bis ihr bei einem solchen Gig, der Analyse von Videodaten verschiedener Überwachungskameras, auffällt, dass etwas nicht stimmen kann, als ein regelmäßig in einem der überwachten Orte kampierender Obdachloser plötzlich verschwunden ist und nur sein offensichtlich verstörter Hund zurückbleibt. Als sie dem mit Hilfe der lockeren virtuellen Gemeinschaft anderer Plattform-Clickworker:innen nachgeht, eröffnet sich eine transatlantische Verbindung zu der ebenfalls marginalisierten Stella, Saisonarbeiterin in Fischfabriken und Hanfplantagen, die in einer kalifornischen Suppenküche aushilft und den verschwundenen Obdachlosen kennt.
Was hier aufscheint, ist die Möglichkeit und Praxis einer virtuellen Solidarität. Eine flüchtige Distanzgemeinschaft vom Leben und Leuten geprügelter Underdogs. Ein Zusammenschluss, der doch sehr reale Wirkungen zeitigt und über profanes Crowdfunding weit hinausgeht. Eine Utopie vielleicht. Aber eine, die Hoffnung macht, wo doch schon Marx das hier agierende „Lumpenproletariat“ abgeschrieben hatte. Berit Glanz erzählt dies behutsam und langsam in Form eines sozialrealistischen Krimidramas, mit einer leisen, lakonischen, einfach gehaltenen Sprache. Das Momentum des Romans liegt in der Empathie gegenüber den beschädigten, ganz und gar nicht perfekten Figuren und ihren oft selbstdestruktiven Lebensentscheidungen.
Dietrich Brüggemann – Materialermüdung (Edition W, 2022)
Einmal die Bibel runderneuert – von der Genesis zur Apokalpyse via Apokryphen als Social-Media-Farce in geplanter Obsoleszenz. Dem Romandebüt des Berliner Drehbuchschreibers und Tatort-Regisseurs Dietrich Brüggemann mangelt es jedenfalls nicht an schreiberischem Selbstbewusstsein. Das schöne gebundene Cover im „Heyne SF-Spezial“-Stil der Spätneunziger ist aber definitiv die halbe Miete, um diese Weltuntergangssatire im schlaumeirische Hipster-Lingo nicht ganz daneben zu finden.
Sich gegenseitig an Smartness überbietende selbstgefällige Dialoge im Sarkasmus-Modus helfen solange, bis die Welt dann wirklich untergeht. Aber nicht so schlimm! Ist ja alles nur Theater hier. Die aus der paradiesischen Provinz zugezogenen Irgendwas-mit-Kunst-, Irgendwas-mit-Geld-Jungberliner sehen dem angekündigten Ende jedenfalls gelassen entgegen. Irgendein Deus-Ex-Machina-Drehbuchtrick wird sie ja wohl noch retten. Und weil: „Die Arroganz der Bescheidenheit. Zentrales Problem der deutschen Kulturlandschaft“. Was man dem Roman nicht vorwerfen kann. Die biblische Fragestellung tritt jedenfalls schon nach wenigen Seiten in den Hintergrund, und die geplante Obsoleszenz wird erstmal zu einem Konzept-Pitch für ein Theaterstück aus Wikipedia-Wissensverwurstung und wohlfeil zynischer Kritik am Kapitalismus, an der Welt, an allen und allem anderen und der eigenen Wokeness. Als die angekündigte Apokalypse nach beinahe vierhundert Seiten dann beinahe vergessen ist, kommt sie plötzlich doch noch, erst im Theater und dann in echt. „Theater? Wieso schlagen sich Leute im Theater? Theater ist doch schön.“ – „Ja, aber nicht in Deutschland. Bei uns muss man dahin gehen wo es wehtut.“
Tom McCarthy – The Making of Incarnation (Jonathan Cape, 2021)
Ähnlich Joshua Cohen oder Ben Lerner scheint der jüngst nach Berlin expatriierte Tom McCarthy ein äußerst intelligenter junger Autor zu sein, der manchmal an seiner eigenen Cleverness zu ersticken droht und die eigene schreiberische Brillanz über die Geschichte stellt. Das kann zu richtig guten Romanen führen – wie dem Pynchonesken „Remainder“ oder dem Anthropozän-Thriller „Satin Island“. Es kann aber genauso einfach zu viel werden und in konstruktivistischer Brillanz erfrieren wie im Raymond Roussellesken „C“. In McCarthys jüngster Arbeit „The Making of Incarnation“ stimmt der Mix wieder. Formal als Mystery-Schnitzeljagd im Krimi-Genre lokiert, gibt sich der Roman von der Physik stehender Wellen informiert, von Urheberrecht und Dance-Moves, von der Mathematik der Flüsse und Ströme, von der Motion-Capture-Technik, von CGI und den militärischen und kommerziellen Anwendungen von Virtual Reality.
Es beginnt in einer brutalistischen Berliner Sehenswürdigkeit, dem Umlauf- und Kavitationstank UT2, und wird zu einem abgefahrenen Trip auf der Suche nach dem Bernsteinzimmer der Kinesis (und potentiell der Patentgesetzgebung), nämlich der verlorenen „Box 808“. Vielleicht weil es um Film geht, ist das filmisch erzählt, fast wie ein Storyboard, und wirkt – in den regelmäßigen Abschweifungen ohne Abschluss, den Exkursionen ohne Erklärung und mit einem reichlich fragilen Plotfaden, der es zusammenhält – wie eine moderne Serie. Also ein Format, in dem forcierte Cleverness tatsächlich meist Laune macht und nur hin und wieder zu viel wird.