Pageturner – Literatur im August 2021William M. Brandon III , Sjón, Simon Jiminez
2.8.2021 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteWer schreibt, der bleibt. Vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist der Pageturner und versorgt uns jeden Monat mit Reviews seiner literarischen Fundstücke. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Für den August schießen wir uns zunächst weg in einem aus der Zeit gefallenen Los Angeles mit William M. Brandon. Danach bleibt es latent weird – im Epochen-übergreifenden Roman des Isländers Sigurjón Birgur Sigurdsson „CoDex 1962“. Und schließlich begeben wir uns auf die Suche nach den Vögeln im Weltraum der Zukunft mit Simon Jiminez. Das ist stark vereinfacht und kratzt nur an der Oberfläche dieses erneut Zeit-durchbrechenden Werks. Ging es im Sommer nicht schon immer um den Taumel?
William M. Brandon III – The Exile The Matriarch & The Flood (Spaceboy Books LLC)
Das neue tolle Ding von William Brandon dem Dritten, ich scheue mich, es ob der gegebenen Vielschichtigkeit einen Roman zu nennen, erzählt von eine möglichen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die nur leicht absurder, nur minimal zynisch-gewalttätiger wirkt als unsere aktuell gegebene. Die drei titelgebenden Figuren, um die herum erzählt wird, nicht linear aber ansatzweise chronologisch, sind auf eine eher erratische Weise verbunden, die erst ganz am Ende des Textes klar wird. Der gemeinsame Knoten ist wieder die Stadt Los Angeles, eine lose aber beharrliche Referenz zu Brandons „Welcome to Spring Street“, das hier zusätzlich zu Gentrifizierung, Obdachlosigkeit, Armut und Gewalt noch von einem kuriosen Wetterphänomen gebeutelt wird.
Da ist einmal „The Exile“ – der bohemisch-irrlichternde Victor. Ein Typ, der „always felt best when surrounded by books“, und als Expat in Dublin auf den Spuren von Leopold Bloom lebt, es im Exil allerdings weder schafft, sein grandioses Romanprojekt zu beginnen, noch sich selbst zu finden – und stattdessen lieber in Pubs rumhängt, später auch in London. Da ist „The Matriarch“ Erlyst Rae Atropos, als angeheiratete Tochter der Nacht wie fast alle Figuren mit einem sprechenden Namen, Ex-Kellnerin aus der Provinz, Trophy-Wife eines sadistischen, sex- und machtbessenen Milliardärs, irgendwann Konzernerbin, die sich eine Festung der Einsamkeit auf den obersten Etagen eines Luxushotels in L.A. bauen lässt. Und Il Diluvio „The Flood“, der Jahre, Jahrzehnte persistente Dauerregen, der die Stadt wieder in das Sumpfloch verwandelt, das es einmal war. Mit reger Hilfe von Gentrifizierungsagenten wie dem Bürgermeister Escalade Alamán, dessen autoritärer Ehrgeiz darin besteht, Downtown Los Angeles zu einer Gated Community, im Wortsinn zur Vatikantstadt zu machen, um mit dem Regen, der hier noch ausdauernder und hartnäckiger pladdert als in Blade Runner, alle unerwünschten Elemente (Menschen und Industrien, die nichts ins Schema passen, Arbeiter, Arme, Obdachlose, Linke, Arbeitslose) aus "seiner" Stadt herauszuspülen.
Brandon erzählt das in Fragmenten und Sprüngen in diversen Textformen, Tagebucheinträgen und Fußnoten, es gibt Karten, Listen und Apokryphen. Ein wenig wie in Mark Z. Danielewskis breit angelegter L.A. Zukunftschronik „The Familiar“, ein wenig auch wie „Infinite Jest“. Brandons Vision von Los Angeles und der USA ist allerdings weitaus expliziter was das sozioökonomische Ungleichgewicht und die politischen Gewalten angeht. Nach zahlreichen immer blutiger und autoritärer werdenden lokal erfolgreichen Putschversuchen besteht die finale Überlebenschance der postindustriellen, postproduktiven USA in einer Art freiwilliger Truman Show. Das einzig gefragte Exportgut ist der American Way of Life, an die neuen Mächte in Ostasien als Scripted-Reality-Shows verkauft. Daneben und dazu radikalisieren sich einzelne Bundesstaaten und Verbünde weiter, spalten sich ab, militarisieren sich, isolieren sich.
Die immer wieder aufflackernden Widerstände, syndikalistische Arbeiterbewegungen, Aufstände der Ausgeschlossenen und Chancenlosen werden von privaten Söldnern und rechter Heimatschutz-Militia nierdergeknüppelt, bevor sie eine Wirkung entfalten – oder was einmal emanzipativ gedacht war im militanten Widerstand selbst autoritär wird.
Was die verschiedenen Zeiten, Makro- und Mikromilieus miteinander in Beziehung setzt, sind die Formen von Isolation und Vereinzelung. Individuell-künstlerisch, beziehungsscheu, soziopathisch, aus Reichtum, aus Abhängigkeit, aus Mangel an Empathie, aus Dominanzstreben, aus Willen zur Macht. Es wäre vermutlich zu einfach, diese Variationen von Anomie als Abfolge oder logische Konsequenz zu präsentieren. So einfach macht Brandon es sich und uns nicht. Verbindungen bleiben unterschwellig, Beziehungen komplex und die in Subplots von Subplots verschachtelten Geschichten Andeutungen und tangentiale Bewegungen. Die Konsequenzen sind allerdings offensichtlich: Der vom US-amerikanischen Charakter so hoch bewertete Individualismus wird zu etwas Pathologischem, der sozialgesellschaftliche Liberalismus autoritär und der ökonomische toxisch.
Es ist wirklich brutal viel Stoff in diesem Buch, manches offen, vieles verschüttet, unter einem Informations-Ooverload verbuddelt. Anomie und Bonhommie (letzteres deutlich weniger) und der militärisch-postindustrielle Entertainment-Komplex fügen sich in ein ätzendes Amalgam, das Amerika von innen zersetzt. Brandon ist hier etwas auf der Spur, das nur zu wahr sein könnte. Es ist vermutlich nicht die Revolution, die „televised“ wird oder die Supermacht USA zu Fall bringt. Vielleicht ist es der Regen.
Sjón – CoDex 1962 (S.Fischer)
Island ist das Land der Mythen und Epen, schon klar, aber was der Isländer Sigurjón Birgur Sigurdsson, kurz Sjón, aus dem Bodensatz der alten und neuen, archaischen und postmodernen, isländischen und ausländischen Mythen so zusammengebraut hat ist noch eine Drehung irrwitziger, als was man unter Epos so üblicherweise versteht. Sjón, der auch schon Texte für Björk geschrieben hat, Island ist ja bekanntlich klein, verbindet hier drei Romane zu einem – und Mythen aus aktuell praktizierten Großreligionen, aus antiken oder archaischen Religionen, Volkserzählungen und Märchen, sowie aus modernen „Urban Myths“.
Der „Liebesroman“ in Nazideutschland erzählt von der zarten Annäherung eines jüdischen Flüchtlings und einer Hausmagd in einem Dorf in Norddeutschland und ist dabei die Neuerzählung der Geschichte des Golems, wie sie vor gut einem Jahrhundert von Gustav Meyrink neu imaginiert und nacherzählt wurde, wie auch der biblischen Geschichte des Erzengel Gabriel, einigen anderen ausgedachten und überlieferten märchenhaften (oder grauenvollen) Stories vor der Kulisse einer finsteren, von Bigotterie, Gewalt und Denunziation gezeichneten norddeutschen Kleinstadt.
Der zweite und leichtgängigste Teil, ein „Kriminalroman“, nimmt die Geschichte des Golem und der Liebenden wieder auf. Den Protagonisten verschlägt es nach Island, auf der Suche nach einer entscheidenden Ingredienz, die fehlt, um dem Golem zur finalen Menschwerdung zu verhelfen. Hier spielen die Mythen, die Dichtkunst und Sprache der Insel eine entscheidende Rolle, aber ebenso briefmarkensammelnde Werwölfe, Nazis und Totengeister.
Der dritte Teil, ein „Science Fiction-Roman“, spielt ebenfalls in Island, in einer nahen Vergangenheit, verwebt das Projekt der Genomkartierung der isländischen Bevölkerung (die dem Buch auch den Titel gab) mit wiederum biblischen, keltischen und biotechnischen Motiven, dem Anthropozän und literarischer Metaerzählung. Weil Abschweifen und Ausfransen hier Prinzip ist, dauert es fast alle der 640 Seiten bis man sehr langsam eine Ahnung bekommt, um was zum Geier es hier eigentlich gehen und wie alles zusammenhängen könnte. Aber es wird explizit auch vieles den Leser*innenn zur weiteren Imagination überlassen. Dafür – und das ist wohl das Erstaunlichste an diesem Staunen machenden Brikett – liest es sich weg wie nix.
Simon Jiminez – The Vanished Birds (Del Rey)
Wo beginnen bei dieser epischen und Jahrhunderte und ferne Welten umspannenden Geschichte? Am besten am Anfang, bei der zartbitteren Liebe einer Frachtraumschiff-Kapitänin und einem Farmerjungen auf einem abgelegenen Agrarplaneten. Die Vögel, die fragilen Raumgleiter, die über Taschen in der Raumzeit schneller als das Licht reisen können, bewirken, dass für sie einige Monate vergehen, für ihn aber 15 Jahre zwischen den nur je 24 Stunden dauernden Begegnungen der beiden. Oder beginnen bei der Konstrukteurin der Vögel, der genialen Mathematikerin, die noch auf der umweltzerstörten Erde des 22. Jahrhunderts die letzten frei lebenden Vögel beobachten konnte und –aufwendig am Leben gehalten – auf dem altbewährten Weg via Älterwerden und Kryo-Stasis durch die Jahrhunderte reist.
Aber nein, die zentrale Figur des Debütromans des Amerikaners Simon Jiminez ist ein Junge, der vom Himmel fällt – der nicht spricht, nur Flöte spielt, offensichtlich von Missbrauch und körperlicher Gewalt gezeichnet und massiv traumatisiert ist. Ein modernen Kaspar Hauser, der im Fokus diverser Interessen steht, weil offenbar Fähigkeiten in ihm schlummern, die den Konzernen, die die Zukunft kontrollieren, von Nutzen sein könnten. Seine Geschichte schält sich nur sehr langsam heraus. Erst im letzten Viertel des Romans passiert überhaupt etwas Dramatisches und entwickelt sich so etwas wie Action. Bis dahin geht es um die Entwicklung und Psychologie der Hauptfiguren, um die liebevoll gezeichneten Welten, die quirligen engen Stadtplaneten-Stationen und die im Verhältnis sehr primitiven Agrarzonen. Wie zwanglos die Gepflogenheiten dieser Welten eingeführt werden, etwa die gender-neutrale Ansprache mit M. statt Mr. oder Mrs., die völlige selbstverständliche Präsenz aller Spielarten von Queerness und nicht zuletzt die Wichtigkeit von Musik und von Vögeln – das ist schon für sich sehr toll. Aber wie Jiminez, der von der ganz kurzen Form der Flash Poetry kommt, dies in superepische Langform bringt ist schlicht großartig.