Pageturner: Literatur im August 2019Leïla Slimani, A. L. Kennedy und Carmen Maria Machado
1.8.2019 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteWer schreibt, der bleibt. Das gilt vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist unser Pageturner. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Im August blickt Eckert durch die Augen von Leïla Slimani zunächst nach Frankreich. In ihrem aktuellen Roman erzählt die Autorin die Geschichte der Selbstzerstörung einer jungen Frau marokkanisch-französischer Herkunft. Danach geht es mit A. L. Kennedy nach Großbritannien. Die erfolgreiche Schriftstellerin hat bereits im vergangenen Jahr die sozialen (Miss)stände Londons in einem modernen Märchen verpackt – pointiert und poetisch. Und auch Carmen Maria Machado beschäftigt sich in ihren Kurzgeschichten mit Krisen und deren Folgen. Die US-Amerikanerin erzählt davon, was passiert, wenn das Normale vom Fremdartigen gestört wird. Denn auch in der Normalität tun sich Abgründe auf, wenn man nur genau hinsieht.
Leïla Slimani - All das zu verlieren (Luchterhand)
In ihrem zweiten Roman erzählt Leïla Slimani die deprimierende Geschichte der fortschreitenden Selbstdemontage und Selbstzerstörung einer jungen Frau marokkanisch-französischer Herkunft, die in die Pariser Bildungsbürger-Elite aufgestiegen ist und alle Trophäen ihres Milieus aufweisen kann: einen Ehemann, der als Top-Chirurg eine geachtete Position in der Pariser Gesellschaft einnimmt, einen bezaubernden Sohn (der ihr ziemlich egal ist), eine Elite-Institutionsausbildung zur Maghreb-Expertin, einen gesuchten Job als Journalistin und Regierungsberaterin, eine großbürgerliche Wohnung im „richtigen“ Viertel, dem 18. Arrondissement, und nicht zuletzt eine Menge ähnlich aufgestellter, interessanter und attraktiver Freundinnen und Bekannte. Und doch (oder gerade darum) ist Adèle zutiefst unglücklich, hasst ihren Job, hasst grundsätzlich die Vorstellung arbeiten zu müssen um zu leben, verachtet ihren Ehemann und eigentlich alle Männer, fühlt sich vom großbourgeoisen Kleinfamiliendasein eingeengt und dumm gemacht. Kurzfristige Entlastung von dieser Beklemmung findet sie im beinahe wahllosen Sex mit zufällig nach Gelegenheit ausgesuchten Männern, auch mit Chefs, Kollegen und den Partnern ihrer Freundinnen. Nicht der Sex bringt dabei Befriedigung sondern der flüchtige Moment der Macht unmittelbar davor. Als der Ehemann dann beschließt, den Stress der Metropole hinter sich zu lassen und eine Praxis als Landarzt in der Provinz aufzumachen, eskaliert die Situation zu einer paradoxen Beruhigung.
Nicht nur im Handlungsverlauf und einigen Details der Figuren erinnert das an Flauberts „Madame Bovary“. Slimani psychologisiert ihre Figur allerdings kaum. Die Motive für Adèles destruktives Verhalten bleiben offen. Verständlicher wird die Geschichte vielleicht im Kontext von Slimanis Reportagen, insbesondere „Sex und Lügen“, einem Interviewband mit marokkanischen Frauen zum Thema Eheleben, Sex und Emanzipation. Wie Slimani in Interviews immer wieder anmerkte, ist es weniger die Machtlosigkeit als die gesellschaftliche Isolation, das Gefühl des Eingesperrtseins in Ehe und Familienstrukturen, das ihr die marokkanischen Frauen vermittelt haben, welches im Roman Resonanz findet. Ohne diesen Kontext bleibt „All das zu verlieren“ ein schneller, harter und eiskalter Statusbericht über das Unbehagen in der französischen Oberklasse.
A. L. Kennedy - The Little Snake (Canongate)
Nach der Lektüre von Helen Oyeyemis postmodernen Märchen, speziell „Gingerbread“, dachte ich, ich sei bestens darauf vorbereitet, mich auf die mit kühler Intelligenz konstruierte Metaebenenfiktion von A.L. Kennedy einzulassen, die hier ebenfalls ein Märchen modern erzählt. Doch meine Erwartungen an einen komplexen Mindfuck mit Stream-of-Consciousness-Intermezzi wurde von „The Little Snake“ komplett unterlaufen. Das Büchlein erzählt ganz straight, ganz kindgerecht (na ja, es gibt kurze Splatter-Szenen) eine ganz simple Geschichte vom heutigen London, von der britischen Klassengesellschaft der abgehängten Sozialbaubewohner und der abgeschotteten Superreichen. Kennedy erzählt in Form einer zauberhaften Tierfabel mit der titelgebenden kleinen Schlange und einem Mädchen aus besagter Hochhaussiedlung als Hauptfiguren. Nur sensible, warmherzige Menschen können die kleine Schlange sehen. Die fiesen Slumlords und Populisten-Politiker sehen sie meist nur einmal – groß, böse und mit scharfen Zähnen. So begleitet, allerdings mit langen Unterbrechungen, die kleine Schlange das Mädchen durch ihre Kindheit und lernt selbst etwas über das Menschlichsein.
„The Little Snake“ ist eine moralische Geschichte über das Wesen des Menschen in deutlicher Anlehnung an Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“. Glücklicherweise aber ohne dessen altkluge Streberhaftigkeit was ethische Fragen angeht. Und vor allem ohne dessen pseudoclevere Mit-dem-Herzen-sieht-man-Besserwisserismen. Könnte sein, dass diese im Kinderbuchtonfall geschriebene kleine Stilübung das schönste ist, was A.L. Kennedy bislang geschrieben hat. Ein bezauberndes Gegenstück zu Sybille Bergs „GRM: Brainfuck“ ist es dazu – und von ähnlichem Realismus.
Carmen Maria Machado - Her Body And Other Parties (Graywolf Press)
Es ist vermutlich nicht besonders originell zu behaupten, dass die aktuell gewagteste und originellste Literatur besonders oft in Genre-Texten stattfindet, speziell Speculative/Science Fiction, Fantasy und Horror, und dabei nicht selten in der Form von Kurzgeschichten. Das Debüt der US-amerikanischen Essayistin, Literaturkritikerin und, ja genau, Kurzgeschichten-Autorin Carmen Maria Machado ist jedenfalls ein weiteres ganz starkes Indiz. Die acht Stories erzählen alle vom Einbrechen etwas Unheimlichem und Fremdartigem in das Normale und Erwartbare. Das hat immer mit dem Körper zu tun, mit unterschwelliger Gewalt und dem Erzählen von Geschichten, hypermodernen wie archaischen Geschichten. Dunkle Vorahnungen, Mythen und Märchen, urbane Folklore verdreht und „falsch“ wiedererzählt und durch diese Stille Post umso abgründiger. Vor dem Hintergrund latenter Katastrophen aus Klimawandel und Wirtschaftskrisen spielt Machado mit der „Verqueerung“ von Identität (die ja, wie wir von Donna Haraway und Sophie Wennerscheid wissen, ganz schön befreiend und ganz schön unheimlich sein kann) als neue Fantastik.
So kann Machado sogar aus der Nacherzählung aller 272 Episoden der dauerwiederholten TV-Serie „Law and Order“ etwas tief Verstörendes machen. Ein Panorama sexueller Gewalt, durch die Wiedergabe von Missverständnissen und bewussten „Misreadings“ noch seltsamer und unverständlicher geworden. Machados Stories sind formal wie inhaltlich hochgradig originell und zeitgeistig. Richtig toll sind die Geschichten aber in ihrer völlig selbstverständlich vorgetragenen Weirdness, die absurd schräg oder schwindelerregend abgründig sein kann. Der Horror, der hier unter den glatten Screens der Digitalwelt auf seinen Durchbruch wartet, ist der Horror des neuen Alltäglichen, des Unbehagens in unseren Beziehungen, in unseren Körpern. Die erzählerischen Mittel dieser schwer greifbaren Unruhe zu beschwören kann modern, sogar modernistisch, elliptisch-avantgardistisch sein, archaisch mythisch oder märchenonkelig/tantig daherkommen. In jedem Fall sorgt sie für ein Jucken im Kopf und am Körper, an Stellen, von denen man vorher nicht wusste, dass sie existieren.