Pageturner: Literatur im April 2019Dan Hancox, Suk-Jun Kim und Christoph Cox
3.4.2019 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteWer schreibt, der bleibt. Das gilt vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist unser Pageturner. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Für den April empfiehlt Eckert drei Bücher zum Thema Musik. Dan Hancox hat die Entstehungsgeschichte von Grime aufgeschrieben und setzt dafür dankenswerter Weise nicht die rein musikjournalistische Brille auf, sondern zeichnet vielmehr auch die dramatischen Veränderungen des Londoner Ostens der vergangenen Jahre nach. So wird das Buch auch für die interessant, die mit der Musik gar nicht viel anfangen können. Brummt trotzdem. Brummen ist auch das Stichwort bei Suk-Jun Kim, der sich mit dem Summen auseinandersetzt, der Fremdartigkeit dieser stimmlosen Stimme. Und der Philosoph Christoph Cox wirbt in seinem Buch, Sound genauso zu verhandeln wie Bild und Text.
Dan Hancox – Inner City Pressure. The Story of Grime (William Collins)
Mit „Inner City Pressure“ hat der Musikjournalist Dan Hancox als Bewohner Nordlondons, Stadtsoziologe und Gentrifizierungsexperte qua Herkunft die definitive Historie eines extrem lokalen, milieuspezifischen und ziemlich jungen, erst seit den frühen Noughties existenten Genres geschrieben. Grime ist die spezifisch-britische und spezifische East-London- Variante von wütendem Rap und Beats aus dem „Hardcore Continuum“ von Rave, Jungle, Drum and Bass, UK-Garage, 2-Step und Dubstep. Eine Szene, deren vorherrschend männliche und fast immer afrobritische oder migrantisch geprägten Protagonisten sich zumindest in den frühen Jahren auf wenige Straßenzüge in einer Handvoll Stadtviertel im Osten Londons konzentrierten. Hackney, Tower Hamlets, Newham, Bow – Viertel also, die jenseits des East Ends, aber noch vor den Suburbs liegen. Nachbarschaften vererbter Armut und immer wieder neu Zugezogener, die sich in den vergangenen fünf bis zehn Jahren rasant gentrifizierten und „regeneriert“ wurden: ein Euphemismus, der radikalen Abriss und teure Neubauten meint.
Die akribische Rekonstruktion vom Aufstieg und Fall, Renaissance und finaler Etablierung der noch immer überschaubaren Szene verknüpft Hancox mit den lokalen Gegebenheiten, mit den Gestimmtheiten der Orte und Situationen, in denen sich Grime abspielt. Hier gelten wie immer die goldenen Worte von DJ Sprinkles: Musikalischer Underground (bei Sprinkles Deep House) ist immer superspezifisch und wird ohne diesen speziellen Kontext zu beliebigem „greeting card bullshit“. Für Grime sind die entscheidenden Faktoren die Lebensumstände im sozialen Wohnungsbau mit verfallender Infrastruktur, die in den Nullerjahren noch zahlreichen Piratensender und Block Partys in den Gemeindezentren. Was macht es mit einem job- und perspektivlosen Jugendlichen, der in einem runtergekommen Towerblock aus den 1960er-Jahren sitzt und aus dem Fenster blickt? Auf die Gated Communitys, die von privater Security isolierten Neubauprojekte der Finanzmarktelite – einen Steinwurf entfernt und doch völlig unerreichbar? Die scharfen schnellen Beats und aggressiven Raps sind ebenso Abbild und Ergebnis dieses dystopischen Gegenwart-Londons wie es die geraden Techno-Beats für das postindustrielle Detroit waren, oder Vocal-House und Vogueing für den queeren Underground New Yorks in den 1980er- und 1990er-Jahren.
Hancox legt die Zusammenhänge offen, die Grime überhaupt erst möglich machten: verfehlte Lokalpolitik, New Labour, „Urban Renaissance“, wachsende Ungleichheit, privatisierter öffentlicher Raum, lokale Selbstermächtigunsgsprojekte und die hyperlokale Konfrontation weißer Working-Class-Cockneys mit afrokaribischer Yardie-Kultur, deren dominante Einflüsse sich in den vergangenen Jahren von Jamaika nach Afrika verschoben haben. Wegen dieser breiten und eher urban-soziologischen als musikalisch-biografischen Herangehensweise ist das Buch auch für Menschen hochinteressant, die sich mit Grime nicht auskennen oder den Stil nicht mal besonders mögen. Grime-Afficionados werden dann aber doch eine Menge O-Töne und Anekdoten ihrer Peers finden.
Suk-Jun Kim – Humming (Bloomsbury Academic)
Der schmale Band des schottischen Sound-Studies-Theoretikers und Sound-Art-Praktikers Suk-Jun Kim ist der Auftakt zu einer von Michael Bull editierten Buchserie, die sich mit einzelnen Aspekten, Funktionen oder Konzeptionen von Klang beschäftigt, mit erzählendem Klang und mit Nonsens, mit Sirenen und mit dem Summen. Letzteres – einem zitierten Lexikoneintrag nach die menschliche Imitation eines langgezogenen Brummens wie dem der Bienen – beschäftigt Kim seit vielen Jahren. Insbesondere die Fremdartigkeit des Summens macht es für einfache Definitionen unbrauchbar. Sei es menschlich, intentional und kontrolliert, sei es natürliches oder maschinengemachtes Brummen und Dröhnen. Wenn die menschliche Stimme die unmittelbarste Verbindung von Denken und Körper darstellt, dann ist das Summen – die stimmlose Stimme, die sich an niemanden richtet auch nicht an sich selbst – noch näher am Körper, noch näher am materiellen und unbewussten Kern von Sound und Selbst. Durch diese Nachbarschaft kann Summen unheimlich und fremd werden, entfremden im psychologischen Sinn, aber ebenso eine Verbindung mit der Welt herstellen. Für einen so kurzen Text zu einem so begrenzten Thema sind die präsentierten Ideen erstaunlich weit ausgreifend bis hinein in Physiologie, Physik und Philosophie. Starke Leistung.
Christoph Cox – Sonic Flux (University Of Chicago Press)
Der US-amerikanische Philosoph Christoph Cox hat sich in der noch eher kleinen Nische der „Sound Studies“ eine recht stabil zentrale Position erarbeitet. „Sonic Flux“ bietet nun so etwas wie eine Zusammenfassung seiner Thesen. Cox tritt für ein Verständnis von Sound aus einer strikt materialistischen, realistischen Perspektive ein. Klang und Geräusch sind so nicht abstrakter oder flüchtiger als Bilder oder Texte. Im Gegenteil, Sound lässt sich jederzeit auf materielle und energetische Ströme zurückführen. Wie sich aus diesem fundamentalen Verständnis von Geräusch als greif- und verstehbares Ding neue Erkenntnisse über das Verhältnis von Musik und Noise und sogar subtile philosophische Einsichten gewinnen lassen, demonstriert Cox am Beispiel historischer und zeitgenössischer Sound Art, von John Cage und Christian Marclay über Alvin Lucier und Eliane Radigue zu Carsten Nicolai und Florian Hecker. Die Tiefenanalyse diverser Klangkunst in Verbindung und Konstrastierung mit dem materialistisch-dionysischen Denken von Leibniz, Nietzsche, Deleuze/Guattari und aktueller Michel Serres und Manuel de Landa fördert einige originelle Einsichten zutage – über Sound und Noise wie über unsere Art zu hören und zu denken. Vor allem ist das Buch aber ein ziemlich konkret gehaltenes Plädoyer für die Gleichstellung von „Audio Cultures“ mit den Kulturen der Bilder und Worte.