Pageturner – Juni 2024: Leben im AbseitsLiteratur von Naomi Alderman, Nina Bouraoui und Shea Ernshaw
3.6.2024 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteSuperreiche investieren in ein neuseeländisches Refugium, in dem sich der Weltuntergang aushalten lässt. In Algerien lebt eine Frau hinter Wohlstandsmauern. Und in einer abgeschiedenen Kommune in Oregon verschwindet eine Schriftstellerin. In seiner Literatur-Kolumne „Pageturner“ beleuchtet Frank Eckert Romane von Naomi Alderman, Nina Bouraoui und Shea Ernshaw – und drei ganz unterschiedliche Plots der Abgeschiedenheit: frei gewählt, gesellschaftlich toleriert und klimawandlerisch notwendig.
Naomi Alderman – The Future (Fourth Estate, 2023)
Wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen, da treffen sich nach der Apokalypse die Milliardäre. Und natürlich diejenigen, die gebraucht werden, um den post-apokalyptischen Lebensstandard zu halten: also technisches Personal, Security, Survival-Expert:innen und gegebenenfalls noch die werte Familie, um die letzten Tage der Menschheit in einer Oase mit künstlichem Wetter komfortabel zu verdösen. Das bedeutet für die, die sich ein „Golden Ticket“ leisten können, auf bessere Zeiten zu warten, und harte Arbeit am Unverzichtbarwerden für die anderen. Die Bereitschaft, alles hinter sich zu lassen – Freunde, Verwandtschaft, Kultur, Sozialleben – und den Rest der Welt kollabieren zu lassen, ohne zurückzuschauen wird sowieso vorausgesetzt. Auch sich dabei besser nie die Frage zu stellen, was das eigentlich für ein Leben sein wird nach der Katastrophe, wenn man dazu imstande war, jegliche Empathie, Moral, soziales Gewissen und Solidarität beiseite zu schieben, um hierher zu gelangen.
Diese Frage stellt sich natürlich besonders akut den Anhängseln der Hyperreichen, die aufgrund von einzigartigen Fertigkeiten oder Beziehungen in den streng kuratierten Kreis der notorisch Überlebenden aufgenommen wurden. Die Ressourcen, die in Fluchtpläne, den Erhalt und die Abschottung der Privatinseln und Megabunker gesteckt wurden, ließen sich ja genauso gut in etwas stecken, das der Allgemeinheit oder zu mindestens ein paar mehr Menschen dient. Die inneren und äußeren Konflikte der Beteiligten spielt Noami Alderman in ihrem spekulativen Thriller „The Future“ rasant und filmisch aus. Biblische Gleichnisse und eine speziell konstruierte Fabel vom Fuchs und Hasen (eigentlich Kaninchen) als Stellvertreter für nomadische vs. Ackerbau und viehzüchtende Lebensweisen dienen als Richtungsweiser, wobei die Moral von der Geschichte von den verschiedenen Akteur:innen doch sehr unterschiedlich gedeutet wird. Braucht es Gemeinschaft, gar eine Gesellschaft, um aus dem Überleben ein Leben zu machen? Für alle, für manche, für (wie) viele? Oder muss der Lebenssinn erstmal warten, bis die Umstände wieder etwas weniger lebensfeindlich sind? Nun, allzu große Illusionen darüber, wer in Zeiten der Apokalypse relativ ungeschoren davon kommt und wer nicht, sollte man sich wohl nicht machen. Aber die grundlegende Lehre, dieser – eigentlich jeder – Dystopie, dass nämlich nach dem Ende vom Ende immer noch was geht, führt ja nicht nur in Aldermans Roman direkt zu den Fragen: Wer, wie und um welchen Preis? Oder für Survivalisten/Prepper:innen individuell umformuliert: Wie weit bin ich bereit zu gehen für das Überleben? Eine zurückhaltend optimistische Antwort aus Aldermans Roman besagt: nicht soweit, jemals die Gesellschaft, das Soziale aufgeben zu wollen. Eine weniger optimistische und eher nicht zurückhaltende besagt: besser jetzt schon in das autarke klimasichere Anwesen mit genügend Hektar Grund im Süden Neuseelands investieren, zudem in KI und robotische Automation, denn auf Menschen kann man sich im Ernstfall nicht verlassen. Bleibt also als Frage und Aussage: Was ist das für ein Leben?!
Nina Bouraoui – Erfüllung (Elster & Salis, 2023)
Entkolonialisierung ist wie ein Hochwasser sinniert die Erzählerin von Nina Bouraouis „Erfüllung“ einmal. Die Schäden werden erst nach und nach sichtbar – wenn sich das Wasser zurückgezogen hat. Sie lassen sich nicht sofort und nicht alle auf einmal beheben, manche vielleicht nie. Für die Französin, die im Algier der frühen siebziger Jahre mit ihrem heißgeliebten zehnjährigen Sohn und dem oft abwesenden Ehemann, zu dem die Liebe langsam erkaltet ist, in einer abgeschotteten Villa in einer der „besseren“ Wohngegenden lebt, sind die offensichtlichen Zeichen des immer weiter eingeschränkten Zivillebens, die allgegenwärtigen Milizen auf den Straßen, die verachtenden Blicke der Männer, die Missbilligung der Frauen Symptome ihrer Isolation, Zeichen ihres Rückzugs, Hintergrundrauschen im vergeblichen Aufbegehren gegen Vereinsamung und Depression.
Das überdeutliche Bild für diesen inneren und äußeren Rückzug ist der mediterrane Garten der Villa, in melancholischer Schönheit beschrieben. Die Gewalt und die Angst aber bleiben, im Boden wie in den Menschen. Der Garten kann keine Zuflucht, keine Oase mehr darstellen unter diesen Umständen, die Liebe zum Sohn, der langsam eigene Interessen und Freundschaften außerhalb der Familie entwickelt, ebensowenig. Das Unbehagen zieht bis in den Kern selbst der privilegiertesten Bewohner:innen der Stadt. Auch wenn das Hochwasser nicht bis in den eigenen Keller reicht, selbst wenn es nicht zum Ausbruch der unterschwelligen Gewalt kommt, nicht zu einem direkten Trauma: Die Nachwirkungen sind da. Bouraoui findet dafür eine Sprache, die tagebuchartig direkt wie tief traurig ist.
Shea Ernshaw – A History of Wild Places (Atria Books, 2021)
Der Titel von Shea Ernshaws erstem Buch, das sich dezidiert nicht an die Zielgruppe Heranwachsender richtet, hört sich nach zeitgenössischem Nature Writing an. Hatte nicht Robert Macfarlane einen ähnlichen Titel vor ein paar Jahren? Nun mit Naturbeschreibungen und abenteuerlichen Reiseberichten hat „A History of Wild Places“ eher nur am Rande zu tun. Die dünn besiedelte feuchtmodrige Waldlandschaft im Nordwesten der USA spielt allerdings durchaus eine Hauptrolle, zumindest atmosphärisch. Denn in einem der entlegeneren Winkel der Berge Oregons liegt mitten im Wald eine isolierte Landkommune die ihrem idyllischen Namen „Pastoral“ nur selten gerecht wird.
An diesem abgeschiedenen und von der Außenwelt abgeschirmten Ort verschwindet eine junge Frau, Kinderbuchautorin, die ein mit eher nutzlosen übersinnlichen Fähigkeiten ausgestatteter Privatschnüffler vom Typ „für hoffnungslose Fälle“ aufspüren soll. Der geradlinige Mystery-Thriller-Plot verläuft sich aber nach kurzer Zeit und verschwindet zusammen mit den Protagonist:innen in den finsteren Wäldern. Auf seltsame Weise gibt es nun Koinzidenzen und Parallelen zu den Begebenheiten in den düsteren Fantasy-Romanen der Autorin, mit kommunaler Folklore, modernen Verschwörungstheorien und Prepper-Paranoia – so etwa zwischen „Twin Peaks“ und „The Rain“. Das ist im Ansatz nicht super originell, wer je einen Film von M Night Shyalaman gesehen hat, ahnt jedoch schnell, wohin sich die Story bewegt. Aber wie so oft kommt es weniger auf das Was der Geschichte an als auf das Wie des Erzählens. Der atmosphärische Horror dieser verschlossenen Gemeinschaft in überbordender Natur entfaltet sich ganz langsam und subtil. Es dauert, bis sich ein Gesamtbild, eine Vogelperspektive über diese klaustrophobische Gesellschaft eröffnet. Und genau darin liegt die Qualität des Romans: hochspannend sein zu können, obwohl fast nichts passiert.