Pageturner – Dezember 2023: Degrowth und Marx, Merkel und Derrida, Aufklärung und GegenwartLiteratur von Kohei Saito, Yoshiyuki Sato und Philipp Blom
4.12.2023 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteDer japanische Philosoph Kohei Saito propagiert Degrowth und weiß als Marx-Übersetzer auch warum. Sein Landsmann Yoshiyuki Sato filetiert und analysiert Machtbeziehungen anhand der Blockbuster der „French Theory“ – und kommt zu erstaunlichen Ergebnissen für das Hier und Jetzt. Und Philipp Blom wirft einen Blick auf die Ära der Aufklärung: Ist die noch relevant oder kann sie ein für alle Mal weg? Drei Bücher, die in der „stillen Zeit“ Impulse setzen. Krimis lesen wir wieder im Sommer. Frank Eckert berichtet.
Kohei Saito – Systemsturz (dtv, 2023)
Kommunismus oder Barbarei? Angesichts der neuen globalen Probleme durch den Klimawandel lässt sich die binäre Alternative nicht mehr halten. Der noch verhältnismäßig junge japanische Philosoph und Marx-Übersetzer Kohei Sato macht in seinem Überraschungsbestseller „Systemsturz“ daraus eine Matrix mit den Achsen Ungleichheit und Autorität.
Was folgende Alternativen ergibt: Erstens den Klima-Faschismus – als simple Konsequenz eines kapitalistischen „Weiter so“, in dem eine winzige technologisch-oligarchische Elite (ihr kennt die Namen) die Klimapolitik (und alle andere Politik) kontrolliert und in ihrem Sinne die Ungleichheiten und Kontrolle mittels staatlicher Gewalt durchsetzt. Zweitens den Klima-Maoismus, der um der Durchsetzbarkeit und Effektivität willen die Weltrettung auf Kosten individueller Rechte und Freiheiten zentralisiert und verstaatlicht. Die Barbarei ist immer noch eine Option. Auch für sie gibt es in Failed States, Klima-induzierter Armutsmigration und politischem Chaos genügend Anzeichen, dass sie möglich wäre. Und schließlich als einzige menschlich-wünschenswerte Option den „Degrowth-Kommunismus“, der in Nachfolge des späten Marx (aber entgegen der klassischen Marxistischen Wachstumsprämisse) eine gerechte und egalitäre Zukunft skizziert, die auf einem globalen Graswurzel-Niveau klimaneutral wie effektiv arbeitet.
Klingt ziemlich utopisch, es gibt aber auch hierfür Ansätze und Zeichen, wie etwa die Stärkung der Commons durch Vergesellschaftung der Güter, die nicht knapp sein dürfen und gerecht verteilt werden sollten (sauberes Wasser, Boden, Technologie, Rohstoffe), Selbstverwaltung, Wertschätzung statt Abwertung von Care-Arbeit, „grüne Stadt“ wie etwa in Barcelonas „Fearless City“-Initiative. Klingt immer noch utopisch? Mag sein, aber es ist definitiv kein Zufall, dass gerade dieses mehr als unwahrscheinliche Buch (ein japanischer Marxist?!) zum Bestseller wurde. Denn Saito ist kein Mahner, kein Warner, kein Defätist. Im Gegenteil: Er bleibt durchwegs optimistisch und glaubt an die Fähigkeit der Menschheit etwas zu ändern. Also bester Feelgood-Kommunismus.
Yoshiyuki Sato – Power and Resistance (Verso, 2022)
Was für ein erstaunlich aus der Zeit gefallenes Projekt, 2004 als japanischer Doktorand nach Frankreich zu gehen, um dort über den Strukturalismus und Poststrukturalismus zu promovieren, das Thema noch einmal von Grund auf aufzurollen und auf seine philosophische Gültigkeit und Zukunftsfähigkeit hin abzuklopfen. Und beinahe noch abwegiger, dass die dabei entstandene Doktorarbeit nun über 15 Jahre später ins Englische übersetzt bei einem renommierten linken US-amerikanischen Verlag erscheint.
Aber die Analyse von internalisierten und externalisierten Machtbeziehungen entlang der einschlägigen Hauptwerke der „French Theory“ der Sechziger und Siebziger macht total Sinn und hat einige späte Aha-Effekte in petto. Denn Sato besitz die seltene Gabe, hochkomplexe und jargonsatte Theoriebauwerke in wenigen Sätzen so zu skizzieren, dass ein Überblick bietendes, die jeweiligen Privatsprachen und eigenwilligen Begrifflichkeiten der Originale überbrückendes Verständnis der dahinterliegenen Konzepte entsteht. Von dieser schon für sich genommen bemerkenswerten Leistung ausgehend sucht Sato in den Gemeinsamkeiten und Differenzen der Theorien und Konzepte der Poststrukturalisten die Möglichkeiten des Widerstands. Und findet die noch offenen und noch nicht explorierten Lücken im System der Totalität von politischen und gesellschaftlichen Systemen, die sich als alternativlos darstellen und die die Logik der Konkurrenz und des Wettbewerbs auf sämtliche Lebensbereiche ausdehnen, was Ende der Siebziger, als Foucault die „Gouvernmentalität“ konstatierte, noch tendenziell spekulativ war, gegenwärtig aber weitgehend globaler Lebensstandard ist.
Nun, meine Lektüre der analysierten Theorien liegt fast durchwegs 20, 30 oder mehr Jahre zurück, daher nur ein paar spontane Eindrücke: Lacans Denken in seiner Art, das psychoanalytische Wissen pseudo/metamathematisch zu formulieren, ist mir nach wie vor sehr fremd. Für Derrida bin ich immer noch (jetzt erst recht) zu dumm, habe nun aber immerhin verstanden, dass Merkels Politik des „Wir schaffen das“ von 2015 ein (beinahe) Derrida’scher Move war. Foucault hat vor allem in seinen letzten Lebensjahren vieles gesehen und vorausgeahnt, was für heute wichtig wurde, aber noch wenige adäquate Antworten darauf formuliert. Althusser wirkt in seiner Rekursion auf Klassenkampf und Bürgerkrieg heute wie damals weit entfernt von den alltäglichen Lebensrealitäten, könnte eventuell aber eine Quelle sein, die noch nicht ganz erschöpft, nicht restlos erkundet ist (aber definitiv nicht für mich). Und Deleuze/Guattari stellen (nicht nur für mich) ein noch immer mächtiges und nicht annähernd erschöpftes Reservoir an Theorien und Begriffsfindungen dar. Was mich daran erinnert, dass ich seit mindestens zehn Jahren doch endlich „Differenz und Wiederholung“ wieder lesen wollte. Das Buch, in dem ich mehr Zeilen unterstrichen habe (teilweise mehrfarbig/mehrfach) als unmarkiert gelassen. Definitiv kein Anzeichen für tiefes Verständnis, aber vielleicht eines für leidenschaftliche Theorielektüre. Vielleicht fange ich doch besser mit den „Drei Ökologien“ an.
Philipp Blom – Aufklärung in Zeiten der Verdunklung (Christian Brandstätter Verlag, 2023)
War die Aufklärung, war dieses einzigartige, als vernunftgeleitete, auf Solidarität fußende Gestaltung der Zukunft abzielende Projekt, nun ein richtiges, wenn auch unvollendetes, das dringend wieder aufgegriffen werden müsste? Oder war die Aufklärung in ihrer Dialektik im Kern durch Rassismus und Kolonialismus verdorben und gehört auf die Müllhalde der Geschichte? Für erstere Annahme gibt es heute nicht mehr allzu viele Fürsprecher – der Wiener Philosoph Philipp Blom ist eine der entschiedensten.
Er begreift die Aufklärung des europäischen 17. Jahrhunderts als experimentelles Projekt der Verbreitung der Vernunft, in dem Gewissheit nicht ohne Wenn und Aber zu bekommen ist. In dem kurzen aber grundlegenden Aufsatz benutzt Blom die Methode seines großen Vorbilds Pierre Balye, einem der frühesten und radikalsten Aufklärer. Der Haupttext besteht aus einer Handvoll Seiten, die erklärenden, vertiefenden, abwägenden und immer wieder die eigenen Argumente in Frage stellenden Fußnoten haben dagegen ungefähr das fünffache Volumen. Dass diese alte neue Aufklärung so eine Zumutung darstellt, liegt an ihrer gnadenlosen Ausleuchtung der intellektuellen Bequemlichkeiten, in der wir uns eingerichtet haben, in den einfachen Gewissheiten und dem nicht so genau wissen wollen (etwa wo unser Essen herkommt). Fast noch schlimmer natürlich die Zumutung des universalen Anspruchs der Aufklärung nach Autonomie, der Freiheit zum Selbstdenken (weswegen ja heute die „Whataboutisms“ leider so gut funktionieren). Die Antwort darauf kann kein weiterer Whataboutism sein, sondern ein universell gültiges Ethos der Aufklärung. Eine Haltung, die Blom ausgerechnet beim vielgescholtenen Michel Foucault findet. Ein Ethos, eben kein Kanon, keine Gewissheit. Eine Praxis, die der Einengung und Einhegung unserer Erfahrung durch Filterblasen, Algorithmen und Virtualität entgegen arbeitet.
Mit Baruch Spinozas „immenser Idee“, dass es nichts außerhalb der Natur gibt, also auch nicht uns selbst, kommt man dann einem neuen Ethos der Aufklärung schon ziemlich nahe. Der Mensch und das Denken stehen nicht außerhalb der Natur, alles Wissen über die Natur und über uns selbst ist vorläufig. Warum das ausreichen muss, ja sogar eine ziemlich gute Basis darstellt, um die Zukunft zu gestalten wusste der kürzlich von Weltethiker Kwame Anthony Appia wiederentdeckte Hans Vaihinger: Obwohl bestimmte Ideen nachweislich falsch sind, können sie doch zu sinnvollen Handlungen führen.