Pageturner – August 2023: ein Trip, eine Biografie, ein Donut-ShopLiteratur von Jenny Hval, Marie Darrieusecq und Ryka Aoki
1.8.2023 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteDie norwegische Musikerin Jenny Hval schreibt „Paradise Rot“ so, wie sie Sound macht – klangmalerisch und verwaschen. Marie Darrieusecq widmet sich in „Hiersein ist herrlich“ Rilke nicht nur im Namen ihres Romans. Und die Literaturprofessorin Ryka Aoki beschreibt im Fantasy-Setting von „Light From Uncommon Stars“ den Donut-Laden asiatischer Migrant:innen in einem Los Angeles, das sich selbst für Ex-Pats seltsam anfühlt. Kein Wunder. Wir chillen in den August mit Büchern – ausgewählt vom Pageturner Frank Eckert.
Jenny Hval – Paradise Rot (Verso Books, 2018)
Dass die Norwegerin Jenny Hval ein weirdes musikalisches Genie ist, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben. Es gibt übrigens auch eine tolle aktuelle Single ihres Projekts Lost Girls – „Ruins“. Dass sie auch schreibt, war mir nicht bewusst, obwohl es die englische Übersetzung schon fünf Jahre gibt und inzwischen sogar eine deutsche. Nun, ihre Novelle „Perlebryggeriet“ also „Perlenbrauerei“ steht ihrem songwriterischen und klangmalerischen Schaffen in nichts nach. Vor allem nicht, was die Normalität in avancierter Seltsamkeit angeht. Gilt umgekehrt natürlich ebenso. Ein Trip in allen Bedeutungen des Wortes, an einer abgelegenen Außengrenze der bekannten Welt Europas, vor allem aber an der Innengrenze der Wahrnehmung. Ein queeres (auch dies in allen möglichen Bedeutungen des Wortes) Coming-Of-Age mit Schimmelpilzen. Mykologie und Mythologie – vereint in organischer Metamorphose. Toll.
Marie Darrieusecq – Hiersein ist herrlich (Secession Verlag, 2019)
Frauenleben werden in Vornamen erzählt, Männerleben in Nachnamen. Also geht es um Paula und Clara, Rilke und Modersohn – zwischen Paris und Worpswede, im Jahr 1900, als die Welt noch jung war, unversehrt von den kommenden Kriegen. Die französische praktizierende Psychoanalytikerin und Autorin Marie Darrieusecq hat in ihrem mit einer Zeile aus Rilkes „Duineser Elegien“ betitelten „Hiersein ist herrlich“ eine lässige Künstlerinnen- und Kulturzeit-Biografie geschrieben. Eine lose Erzählung der zentralen und formativen Jahre im kurzen Leben der Paula Modersohn-Becker als Malerin und frühmoderne Avantgardistin, als Liebende und wache Beobachterin ihrer Zeit. Trotz der knappen und fragmentarischen Form ein präzises Kurzportrait eines intensiven Lebens in der Kunst. Nicht zuletzt darin ist der Text selbst Kunst in literarischer Form.
Ryka Aoki – Light From Uncommon Stars (TOR, 2022)
Einen ganz schön spannenden Hybrid hat sich die US-amerikanische Literaturprofessorin und Poetin Ryka Aoki für ihr spekulatives Debüt „Light From Uncommon Stars“ ausgedacht. Einerseits ein traditionelles Horror/Fantasy-Motiv aufnehmen, eine Variation der Story von Dr. Faustus, Paganini oder Robert Johnson, in der ein Künstler für Ruhm und Brillanz seine Seele dem Teufel verkauft. Und das dann andererseits zu kombinieren mit Alien-Expats, die ein seltenes stellares Phänomen, das die Erde in 247 Jahren treffen wird, zum Anlass nehmen, vor einem intergalaktischen Krieg auf die abgelegene technologisch unterentwickelte Erde zu fliehen, und diese dann nebenbei touristisch zu erschließen – getarnt als vietnamesische Flüchtlingsfamilie, die in Greater Los Angeles eine der letzen erhaltenen Art-Deco-Shops für Donuts betreiben. Das alles in queer, mit ausladenden Auslassungen zu Essen und Musik, im Milieu südostasiatischer Arbeitsmigrant:innen. Zu viel? Keineswegs! Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der hier transgender und queere Lebensentwürfe verhandelt werden, hält die disparaten Teile sinnig zusammen. Dazu ist L.A. in einer feinen Fantasy-Noir atmosphärisch intensiv wiedergegeben, wie in den allerbesten „Angel“-Episoden. Also von Humor durchzogen, aber doch intensiv und anrührend.