Pagetuner: Literatur im Januar 2020Brigitte Kronauer, Sebastian Guhr, Cemile Sahin
8.1.2020 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteAuch 2020 gilt: Wer schreibt, der bleibt. Vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist der Pageturner und versorgt uns jeden Monat mit Reviews seiner literarischen Fundstücke. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Für den Januar blickt Eckert auf den finalen Roman der verstorbenen Brigitte Kronauer, in dem sie die Welt anhand von 39 Vogelarten greifbar und verständlich macht. Sebastian Guhr beleuchtet die Schlussphase der DDR durch die Brille zweier exzentrischer Selfmade-Wissenschaftlerinnen in Thüringen. Und Cemile Sahin ist mit ihrem Debüt ein so hartes wie beeindruckendes Werk zum Thema Identität geglückt.
Brigitte Kronauer – Das Schöne, Schäbige, Schwankende (Klett-Cotta)
Wie schön, dass Brigitte Kronauer noch ein Buch über Tiere und Menschen schreiben konnte. Wie traurig, dass keine weiteren mehr folgen werden. Denn sprachverliebter, tiefschürfender und subtil-gemeiner hat im Deutschsprachigen niemand über menschliche Tiere und tierische Menschlichkeit schreiben können. Das letzte große Buch der im Sommer verstorbenen Hamburger Autorin nimmt einen Aufenthalt im Haus eines befreundeten Ornithologen-Ehepaars, in dem es vor Darstellungen, Zeichnungen, Figuren exotischer Vögel nur so wimmelt, zum Anlass, 39 (!) Kurzgeschichten zu schreiben. Jeweils dreizehn zu den Themen „Das Schöne“, „Das Schäbige“ und „Das Schwankende“ – und jeweils verknüpft mit einer Vogelspezies. Das kann ganz explizit sein, wenn das Tier in der Geschichte als solches vorkommt, symbolisch wenn es um ein vogelhaftes Menschen-Individuum geht, oder parabelartig zur Tierfabel verfremdet. Stilistisch hat Kronauer eine immense Bandbreite, wobei in diesem Band nach der (un-)moralischen Fabel die Autofiktion nach Art von Rachel Cusk am häufigsten vorkommt. Also wenn die Erzählerin eine Begegnung, ein Gespräch wiedergibt und sich selbst als handelnde Person oder Ego aus der Geschichte tendenziell herausnimmt.
Es geht aber genauso schön auch um die „Chilenische Nachtigall“ Rosita Serrano, um die selten gewordene Anmut von Quetzal und Eisvogel, um traurige Käfigbewohner und charakterliche Verwahrlosung, um böse Kinder, schreckhafte Opernexperten und so manche schrägen Vögel mehr. Es sind kleine, gerne abgründige Geschichten, die sich für Gesichter, speziell Münder interessieren wie für eigenartige Charakterzüge. Das letzte Viertel des Story-Romans erzählt dann vollendet autofiktional vom partiellen Scheitern des Erzählprojekts und was davor und danach geschah. Vom trockenen Bericht zur märchenhaften Fantasie sind die Geschichten elegant konstruiert und subtil kunstvoll arrangiert. Kronauer hatte einen einzigartigen Sound, leise und doch ungemein präsent. Ihre Stimme wird fehlen.
Sebastian Guhr – Die langen Arme (Kein & Aber)
Es sind die letzten Jahre der DDR. Ein Schwesternpaar wird in die sich überschlagenden Ereignisse hineingez… Äh nee, so ein DDR-Nostalgie slash Abenteuerroman ist „Die langen Arme“ definitiv nicht. Das fängt schon damit an, dass die ältere Schwester und Erzählerin ziemlich exzentrisch ist. Und die jüngere ebenso, nur extremer. Beide sind Synästhesistinnen, die nicht nur Klänge sehen, sondern Bücher riechen und im Käse Melodien nachhören. Dazu sind sie ultrahochbegabte Selfmade-Wissenschaftlerinnen ohne Skrupel und von ultimativ eigenen Gnaden. Die ältere ist an olfaktorischer Psychologie interessiert, die jüngere an biomechanischen Apparaten. Die Ältere – sensibel und introvertiert – trägt eine Schutzbrille gegen die Welt und einen Isolationshelm für schwere Stunden, die Jüngere hat dagegen kein Problem mit Experimenten an Tieren und Menschen. Sie bastelt nach dem Vorbild von „Being John Malkovich“ eine Maschine, mit der man in anderer Leute Kopf einsteigen kann. Dass derartige Seltsamkeiten in der Kontrollgesellschaft der thüringischen Kleinstadt nicht gut ankommen, ist klar. Dass es zu einer horriblen Eskalation kommt, als die Schwestern ein geheimes Tunnelsystem unter der Stadt finden, von dem aus alle Häuser des Ortes heimlich observierbar sind, ist dann ziemlich zwangsläufig. So wird aus einer böse lustigen Außenseiterstory ein irrwitziger Horrortrip, in dem Mauerfall und Wendezeit dann kaum eine Rolle spielen. Ein starkes Statement für die Komischen, die nirgendwo reinpassen. Die unsozialen Freaks, die „Untergründigen“. Oder wie es die ältere Schwester formuliert „Es gab wirklich viele seltsame Menschen, nicht nur mich.“
Cemile Sahin – TAXI (Korbinian Verlag)
Nachrichten aus dem beschädigten Leben. Ein namenloser junger Mann aus einem namenlosen Kriegsgebiet lebt in einer anonymen Stadt ein anomisches Leben ohne Sozialkontakte – bis ihm plötzlich eine ältere Frau einen Namen gibt. Den ihres Sohnes Polat Kaplan, eines Soldaten, der bei einem Einsatz im Kaukasus bei einem Anschlag in die Luft gesprengt wurde. Die Mutter gibt den jungen Mann als ihren verschollenen und nach Jahren mit Gedächtnisverlust zurückgekehrten verlorenen Sohn aus, nach einem genau ausgeklügelten Drehbuchplan. Der junge Mann macht mit: erst eher willenlos als Fortführung seines an (Eigen-)Sinn armen vegetativen Daseins, dann zunehmend aktiv, sogar als die Mutter ihm die Nase bricht, damit er dem Sohn ähnlicher sieht. Die Scharade gelingt, zumindest so lange bis alle von der Vergangenheit eingeholt werden. In Kriegszeiten bleibt niemand ohne Schuld.
Cemile Sahin hat eine bitterböse Quasi-Satire über Identität und Verlust geschrieben, die vor allem klarmacht, dass eben genau das, ein einheitliches Selbst in einer traumatisierten Existenz, nicht so ohne weiteres herstellbar ist. Eine „fluide“ Identität muss man sich halt auch erst mal leisten können. Ein exzellent konstruiertes, extrem cleveres, psychologisch hartes Buch zu einem akuten Zeitthema – von mitunter schwer auszuhaltender Konsequenz. Ein Debüt, das sich zwischen Han Kang und Hanya Yanigahara nicht verstecken muss.