KonzerterinnerungenThe Cassandra Complex – Berlin, Prater, 13. April 1990
15.11.2021 • Kultur – Text: Thaddeus Herrmann, Montage: Susann MassuteZwischen Punk, Hardcore, Elektronik und Pop – in genau dieser Reihenfolge – baute sich The Cassandra Complex ab Mitte der 1980er-Jahre eine treue und verschworene Fan-Gemeinde auf. Düster und strahlend, geradeaus und voller Power vermischte das Projekt um Sänger Rodney Orpheus Genres und Szenen. Im April 1990 spielte die Band im Ostberliner Prater.
Es ist eine Weile her, als noch alle, auch ich, regelmäßig ins Büro gingen. Da saß ich an meinem Platz und von schräg gegenüber schallte es heran: „Thaddi, weißt du eigentlich, was Rodney macht?“ Ich sagte weder ja, noch nein, sondern fing einfach an zu singen. Eigentlich nicht meine Art, aber wenn der Name Rodney fällt, kann ich nicht anders.
Don't look now, we're flying over
A little place that lies below
It's nothing very special, it's just a town
Called Moscow, Moscow, Idaho
Moscow, Idaho
Rodney Orpheus ist der Sänger von The Cassandra Complex, und das ist die Band, die ich, abgesehen von Schulbands vielleicht, mit Abstand am häufigsten live gesehen habe. Was willste machen, die kamen einfach ständig rum, sogar mal im Vorprogramm von Slowdive, aber das ist eine andere Geschichte. Der Gig im (Ost-)Berliner Prater ist daher auch eher ein Platzhalter für all die Konzerte. Waren eh alle ungefähr gleich geil. Und bei The Cassandra Complex hieß das damals: sehr, sehr geil.
Die Band gründete sich Anfang der 1980er-Jahre in Leeds. Das erste Album „Grenade“ erschien 1986. Eine etwas gewöhnungsbedürftige Mischung aus Punkrock und Drummachine, einem heimlichen Synth hier und da und Rodneys Gesang. Mit den Jahren wurde der Sound immer elektronischer und ja: Das war dann irgendwie EBM, aber eben auch nicht. Weil trotz aller Düsternis eben viel mehr eine Rolle spielte. Nicht zuletzt der Humor, mit dem Rodney die Gigs immer wieder konterkarierte. Rodney ist so ein kleines Plappermaul. Sehr sympathisch, ebenso die erstaunlich poppigen love songs zwischendrin.
Das Album „Theomania“ von 1988 packte mich dann. Nicht mit einem Liebeslied, sondern dem großen Hit „One Millionth Happy Customer“. Ich kaufte rückwärts und vorwärts. Kurzer Realitäts-Check.
Ja, das geht immer noch. Vielleicht noch besser als damals, wenn wir uns den Hall auf dem Drumcomputer wegdenken. Wer wissen will, wie die Band in ihren Anfangstagen live klang, dem empfehle ich das Live-Album „Feel The Width“. Im Streaming gibt es das leider nur in gekürzter Version. Aber das Doppel-Vinyl sollte preisgünstig zu schießen sein.
Live also. Im April 1990 im Prater, am oberen Ende der Kastanienallee. Das war eine wunderbare Zeit in Berlin. Denn viele Bands spielten zweimal. Im Westen und im Osten. Traumhafte Zustände für Fans. Und ja, ich hatte wenige Tage zuvor auch den Gig im Loft gesehen. Es werfe mir also niemand vor, für 18,10 Mark der DDR jemandem etwas weggenommen zu haben.
The Cassandra Complex waren halt Rocker, die mehr oder weniger zufällig auch mit Elektronik arbeiteten. Sie schrieben Songs, keine Tracks. Vielleicht der größte Unterschied zu den „echten“ EBMs, die sich so wahnsinnig hart vorkamen. Rodney und Co. wollten Spaß.
Das kann man von der Vorband „Sleeping Dogs Wake“ nun nicht unbedingt behaupten. Hilfe, habe ich mich vor denen gefürchtet. Da kommt dieser Typ, Robert Wilcocks, auf die Bühne, stellt sich im Kunstnebel hin und brüllt den Band-Namen so inbrünstig, wie ich noch nie jemanden habe brüllen hören. Alle Death-Metaller: Ihr seid raus. Auch die Musik war krass. Aber gut. Irritierend, dass die Band damals auf One Little Indian veröffentlichte (heute One Little Independent). Egal, bitte abheften unter „Da muss man wohl dabei gewesen sein“.
Ich versuche bis heute herauszufinden, warum The Cassandra Complex so eine tolle Live-Band waren. Vielleicht immer noch sind, aber heute, ganz ehrlich, diese Nostalgie-Shows brauche ich einfach nicht. Im Jahr 2000 erschien das letzte Album, und natürlich wird 20 Jahre später wieder getourt. Es ist – da bin mir sicher – die pure Freude am Spielen. Keine Show, einfach einstöpseln und los. Lass Fehler Fehler sein, lass Beats regnen, dann Gitarren, dann schnell, dann langsam, dann Saxophon, dann wasauchimmer. Und wieder von vorn. Die Songs waren auch einfach gut. Das hielt leider nicht ewig, aber das ist mit den meisten Bands so. Die Erinnerung bleibt. Und wenn ich im Büro mal wieder „Moscow Idaho“ brüllen darf, werde ich dankbar sein.