KonzerterinnerungenSaint Etienne – Berlin, Marquee, 10. Mai 1994
6.10.2021 • Kultur – Text: Thaddeus Herrmann, Montage: Susann Massute„Join Our Club“, „Only Love Can Break Your Heart“ – Saint Etienne sind für einige der größten Rave-Hits aller Popmusik-affinen Quereinsteiger*innen verantwortlich. Doch dann war der Rave ausgeravt und die Band von Sarah Cracknell, Bob Stanley und Pete Wiggs versuchte, Boden gut zu machen, neu zu erobern und sich einen Platz im immer schneller drehenden Musik-Zirkus zu sichern. 1994 kamen sie mit ihrem dritten Album „Tiger Bay“ in einen Hinterhof in Berlin-Schöneberg.
Allen, die wissen wollen, wie zu Saint (St.) Etienne und ihrer Musik stehe, rufe ich beherzt entgegen: „Ich liebe die Band!“ Trotz aller Fehltritte, aller Eurotrash-Disko, den mitunter fragwürdigen Remixen und vielen schwachen Songs. Es gibt eben Musiker*innen, denen ich fast alles verzeihe. Sarah Cracknell, Bob Stanley und Pete Wiggs sind genau solche Menschen.
Den Eintritt in den Kosmos von Saint Etienne habe ich vor über vier Jahren für dieses Magazin bereits aufgeschrieben. Damals fiel der Satz: „Die frühen LPs – „Foxbase Alpha“ und „So Tough“ – waren einfach zu sperrig: Fünf Songs und 15 Interludes reichten nicht, der tipping point, er wollte einfach nicht kommen.“ Ende Februar 1994 veröffentlichte die Band ihr drittes Album: Tiger Bay. Ich erinnere mich noch ziemlich genau, dass ich diese LP damals nicht besonders mochte – trotz einiger toller Songs. Heute sehe ich das anders. Von „Pale Movie“ mal abgesehen – diesem furchtbaren Ungetüm aus saturierter 909, Flamenco-Gitarre und Café-Del-Mar-Missverständnissen –, ist die Platte erstaunlich durchkomponiert, setzt auf mehr Songs und weniger Collagen und Interludes und markierte vielleicht den eigentlich Beginn der Band als Band – und das Ende des Projekts. „Former Lover“ ist ein wunderbares Liebeslied, „Hug My Soul“ ein episches Stück Soul (sic!). Und „Like A Motorway“ trumpft noch heute mit einer der besten Oktav-Basslines aller Zeiten auf, von den Autechre- und Dust-Brothers-Remixen mal ganz abgesehen.
Der Berliner Gig am 10. Mai 1994 fand im Marquee statt. Einem „Club im Club“ im damaligen Ecstasy in Schöneberg. Tom Spindler regierte über die Räumlichkeiten – heute betreibt er eine der größten Konzertagenturen der Stadt. Damals war es eine Disko, in der auch Konzerte stattfanden. Der große Floor war im Keller und so richtig 80er. Die Tanzfläche war leicht erhöht und in abwechselnd leuchtende Quadrate unterteilt. Dahinter eröffneten die Betreiber irgendwann noch einen richtigen Konzertraum, die „Schachtqualle“. In dieser ehemaligen Tiefgarage sah ich einige beeindruckende Konzerte. Das Marquee hingegen war ebenerdig.
Stellt euch das so vor: Der Eingang lag im 2. Hinterhof. Vorbei an der Kasse lief man durch einen schmalen Schlauch. Linker Hand die Garderobe, rechts die Treppe nach unten. Hinter der Garderobe war eine gläserne Flügeltür, die in einen kleinen Raum/Club führte. Ein Mini-Dancefloor, eine unter die Treppe nach oben gebaute Bühne und rechts ein Podest, auf dem man sitzen konnte. Das war das Marquee. Der Raum hatte ungefähr so viel Atmosphäre wie die Gepäckaufbewahrung im Londoner Bahnhof Paddington. Aber so war es nunmal.
Das Tolle war, dass die Bands, die dort spielten, nicht über geheime Türen oder Eingänge auf die Bühne kamen, sondern einfach die Treppe runtertappsten. Sarah trug Federboa und irgendwas mit Glitzer. Pete ein rotes Samt-Sakko. Bobs Outfit erinnere ich leider nicht mehr. Dafür aber, dass sich Pete hinter einem Jupiter 4 von Roland positionierte. Ein legendärer Synthesizer, groß und mächtig, mit herrlichen Holz-Panelen an beiden Seiten.
Musikalisch war das aus meiner Erinnerung mehr oder weniger Playback. Nicht schlimm, ganz und gar nicht. Sarah sang und sang. Waren noch andere Musiker*innen bzw. Background-Sänger*innen dabei? Wenn ihr auch da wart, helft mir in den Kommentaren. Nein, ich werde kein YouTuber, ich schwelge nur gerne in Erinnerungen und teile sie mit allen.
Ich habe diesen 10. Mai 1994 in wirklich guter Erinnerung. Es blieb der einzige Gig, den ich von einer meiner erklärten Lieblings-Bands gesehen habe. Ich lebte in und mit ihrer Musik, sog alles auf, was mir über den Weg lief. „The Misadventures Of Saint Etienne“ von 1999 ist bis heute einer meiner absoluten Favoriten. Was To Rococo Rot als Co-Produzenten und -musiker ein Jahr später auf „Sound Of Water“ bewerkstelligten: legendär. Und auch wenn ich immer wieder die Hoffnung aufgab: Bestimmte Songs, die textliche Verwurzelung im UK der 1980er-Jahre – mit klaren Pop-Referenzen, die ich schlicht fühle, und das aktuelle Album, dessen Urteil vom Kollegen Jan-Peter Wulf ich nichts hinzuzufügen habe, machen die Band nach wie vor zu einer konstanten Konstanten. Nur für was diese Konstante steht, gilt es jedes Mal neu auszuloten.