KonzerterinnerungenNick Cave & The Bad Seeds – Berlin, Tempodrom, 20. Mai 1990
1.9.2021 • Kultur – Text: Thaddeus Herrmann, Montage: Susann MassuteVielleicht war „The Good Son“ Nick Caves Durchbruch. Vielleicht aber auch einfach nur die erste von vielen Trennlinien seiner Karriere. Ein Album mit viel Licht und Melancholie gleichermaßen. Thaddeus Herrmann schaute sich das Berliner Konzert an. An einem Ort, den es heute so nicht mehr gibt.
Ich habe Nick Cave und seine Band genau einmal live erlebt. 1990, im Berliner Tempodrom. Schlimm eigentlich. Denn je zahmer er mit seiner Musik wurde, desto mehr mochte ich ihn und seine Musik. Damals, 1990, deutete sich dieser Wandel schon an, war aber nicht längst nicht abgeschlossen.
Das erste Album von Cave, das ich in Echtzeit mitbekommen hatte, war „Tender Prey“ (1988) – Songs wie „The Mercy Seat“, „Slowly Goes The Night“ oder „New Morning“ rissen mich damals mit – die restlichen Stücke waren mir eher unheimlich. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nichts über The Birthday Party, die Szene in Australien, die Gang, die meinem Verständnis nach mehr oder weniger spontan nach Berlin aufbrach – dem Heroin hinterher. Anita Lane (kürzlich verstorben), Rowland S. Howard (schon länger nicht mehr da), Barry Adamson, The Crime & The City Solution (hätte ich nur noch die Konzertkarte!) – all das war mir fremd. Auch die ergreifende Performance in Wim Wenders’ Der Himmel über Berlin hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht gesehen, die ja das gesamte disparate Potenzial auf Zelluloid gebannt hatte. Später sollten mir dann die frühen Alben von Cave & The Bad Seeds die Augen öffnen. 1990 ging ich aber mehr oder weniger uninformiert ins Tempodrom.
Berliner*innen mögen sich erinnern. Das Tempodrom war damals ein Zirkuszelt neben der Kongresshalle (dem heutigen HKW). Als ich kürzlich auf der Terrasse des HKW ein paar Fotos für meine Texte machte, sprach mich eine Frau an, die wissen wollte, was ich dort tat. Sie war offensichtlich psychisch ein wenig angeschlagen, aber doch bestens informiert. Über die Architektur und die Geschichte des Gebäudes. Ich erzählte, dass ich 1980 den Einsturz eines der Außendächer miterlebt hatte – ich wuchs in der Nachbarschaft auf und wanderte damals mit meiner Mutter an den Ort des Geschehens. Das Tempodrom war super und hat nichts mit der Mehrzweckhalle von heute zu tun. Ein großes Zirkuszelt, viel Matsch, viel Improvisation und eben Konzerte. Heute steht dort das Tipi am Kanzleramt. Auch im Tiergarten hat sich einiges verändert.
Ich erinnere den Gig nur noch bruchstückhaft. Es war voll (keine Überraschung) und ebenso toll. Natürlich wartete ich auf das Duett von Nick und Blixa – „The Weeping Song“. Den Song verstand ich wohl – nicht aber die Bildsprache des Videos. Die Priester-Krägen, das Boot, die Flasche: Ich war mit meinem kulturellen und gesellschaftlichen Selbstverständnis noch längst nicht so weit. Schauen wir doch mal rein:
Zurück ins Tempodrom: Diesen Song erinnere ich tatsächlich. Er war eher eine Fußnote bei diesem Gig, bei dem sich Cave als Gesamtkunstwerk inszenierte und – da bin ich mit ziemlich sicher – immerhin noch rauchte. Heute singt er den Song allein – Blixa hat die Band schon vor Jahren verlassen. Aus guten Gründen, wenn man sich dieses Video anschaut.
Das ist schon ziemlich berechnendes Muckertum, aber natürlich auch ganz cool. Damals machte ich mir um Cave vor allem Sorgen. Dass er sich nicht übernimmt und von der Bühne fällt. Die Kurve hat er zum Glück gekriegt.
Nach dem Konzert, am Merch-Stand, kaufte ich seinen Roman „And The Ass Saw The Angel“ und ich verstand kaum ein Wort. Ich habe das Buch seitdem nicht mehr gelesen – sollte ich mal tun! –, sah ihn aber nochmal in einer Lesung im Weddinger Sputnik-Kino. Das muss 1991 gewesen sein. Ich nahm das damals sogar auf Tape auf, finde die Kassette aber nicht mehr. Eine total tolle Situation. Der überheizte Autor kam auf die Bühne, legte bzw. las einfach los und australische Ex-Pats brüllten rein, Cave würde viel zu laut vortragen. Er zeigte sich verständnisvoll – und las leiser weiter.
Je älter ich werde, desto mehr weiß ich Nick Caves Musik zu schätzen. Album um Album wird sein zunehmend abgehangener Sound perfekter. Bitte mach noch viele Platten, Herr Cave.
À propos Cave: Am gleichen Abend spielte die Band nach dem Konzert im Tempodrom einen weiteren Gig – am Nollendorfplatz im „Cafe Swing“. Es war angekündigt in den Stadtmagazinen: „Nikolaus Höhle und die schlechten Samen“. Reingekommen bin ich damals nicht. Es war einfach zu voll. Schade eigentlich.