KonzerterinnerungenEinstürzende Neubauten – Berlin, Kulturhaus Elektrokohle, 21. 12. 1989
12.5.2021 • Kultur – Text: Thaddeus Herrmann, Montage: Susann MassuteWann Konzerte wieder regulär stattfinden werden, bleibt trotz aktuell sinkender Infektionszahlen vollkommen unklar. Wir nutzen die Zeit, um uns an große Bühnenmomente zu erinnern. Für die erste Folge der neuen Reihe bei Das Filter schalten wir nach Ost-Berlin, in den Bezirk Lichtenberg, wo die Einstürzenden Neubauten rund sechs Wochen nach dem Mauerfall ihr erstes Konzert hinter dem durchlässig gewordenen antifaschistischen Schutzwall spielten.
Beim Aufräumen fand Redakteur Thaddeus Herrmann einen dicken Stapel alter Konzerttickets – allesamt aus Berlin, von Gigs zwischen 1986 und 1994. Die Shows, die beim Betrachten der Karten sofort die Synapsen der Erinnerung flirren ließen, wird er in der Kolumne „Konzerterinnerungen“ aufarbeiten. So archivarisch-neutral wie möglich und so verklärt wie nötig.
Wenn ich bei mir aus dem Küchenfenster schaue, was seit Pandemie-Beginn deutlich öfter passiert, sehe ich manchmal Blixa Bargeld vorbeilaufen. Wir sind quasi Nachbarn, er wohnt ein paar Häuser die Straße runter. Er ist entweder allein unterwegs und hämmert dabei gern auf sein iPhone oder mit Frau und Kinderwagen – zu welchem Spielplatz auch immer. Angesprochen habe ich ihn nie, aus dem 3. Stock hätte das eh keinen guten Eindruck gemacht. Ich habe vor Christian Emmerich immer noch einen wahnsinnigen Respekt – und auch ein bisschen Angst.
1989 wohnte Blixa in der Hauptstraße 30 in Schöneberg. Ich weiß das, weil im 2. Hinterhof ein Club war, den ich regelmäßig frequentierte und Blixas Mutter zu diesem Zeitpunkt meine „Arbeitgeberin“ war – als Chefin der Berliner Bahnhofsmission, wo ich ein Berufspraktikum absolvierte. Eine tolle Frau.
Die Neubauten hatte ich zuvor schon im Quartier Latin gesehen, ich erinnere nur beim besten Willen nicht mehr wann. Die Eintrittskarte nennt zwar den 5. Oktober, mit dem „Caspar Brötzmann Massaker“ als Vorgruppe, doch nicht das Jahr.
1989 also. Am 21. Dezember fuhr ich mit meinen Kumpels Heiko Hoffmann (kennt ihr) und Matti Binner (kennt ihr nicht) zum Gig in Ost-Berlin. Berlin war immer noch geteilt, der 9. November hatte in unserem Westberliner Paradies einiges ausgelöst und umgeworfen. Ende Dezember hatten sich die Wogen jedoch wieder geglättet. Wir reisten am Bahnhof Friedrichstraße in die DDR ein, tauschten Geld und fanden die richtige Tram in Richtung Lichtenberg, warfen bestimmt auch was in die Zahlbox und fuhren und fuhren. Vor der Elektrokohle war die Hölle los. Tickets hatten wir nicht, wenn ich mich recht erinnere. Ich glaube auch, dass wir am Schalter der Gästeliste schließlich mehr oder weniger wild mit D-Mark wedelten, um Tickets zu bekommen. Dafür bitte ich um Entschuldigung, wenn es denn stimmt.
Das Kulturhaus des VEB Elektrokohle kennen viele Berliner Technos – hier fanden wenig später zahlreiche Raves statt. Skurril. Denn von Underground war im Kulturhaus wenig zu spüren. Ein erhabener Saal mit tollem Parkett, immens hoher Decke und fulminant-protzigen Kronleuchtern bildete das Surrounding. Natürlich alles ein bisschen angegrabbelt, aber genau das machte es ja so schön. Und irgendwie auch passend für die Neubauten. Blixa, Mufti und Co. hatten 1989 gerade „Haus der Lüge“ veröffentlicht, und damals wie heute passt der erste Track – der „Prolog“ – zu jeder Art von gesellschaftlicher Kapitalismus-Kritik.
Meint ihr nicht
Wir könnten unterschreiben
Auf dass uns ein bis zwei Prozent gehören
Und Tausende uns hörig sind
Meint ihr nicht
Wir könnten uns im Äther braten lassen
Und bis zum letzten Tropfen
Im Verpackungshandel fronen
Wir könnten, aber
Meint ihr nicht
Wir könnten unsere Züge
Zigtausendfach, in falschen Farben
Weltbewegend scheinen lassen
Meint ihr nicht
Wir könnten uns vergolden
Auf vierzig Sprossen
Für unters Volk gebrachte Massen
Viele Monde thronen
Wir könnten, aber
Meint ihr nicht
Wir könnten es signieren
Vielleicht sogar auch resignieren
Und dieses Land
Gleich Eintagsfliegen
Nur noch auf und ab und ab und auf bespielen
Um später dann zurückzukehren
Ganz aufgedunsen
Längst vergessen
Nur noch kleine Kreise ziehen
Wir könnten, aber ...
Mit anderen Worten: Die Neubauten rannten offene Türen ein in einem Land, das gerade geöffnet worden war. Wir Westberliner Oberschüler tranken Bier und freuten uns, dass diese Musik nun endlich auch hier angekommen war und einen wundervollen Kontrast auslöste zum Kulturhaus des volkseigenen Betriebs. Und: Wir kauften T-Shirts. Kurze Ärmel, strahlend weiß und auf der Front ein Mash-up des Neubauten-Logos und der DDR-Fahne. Selbst Blixa, der Mann, vor dem ich noch heute Angst habe, war gerührt und verkündete vor den Zugaben, dass „wir sehr, sehr dankbar sind, heute hier sein zu dürfen“.
Die Tram brachte uns zurück zum Bahnhof Friedrichstraße. Bei der Ausreise wurde Matti von einem Zollbeamten der DDR angehalten. Haben Sie etwas gekauft? Haben Sie noch Währung der Deutschen Demokratischen Republik? Im Tränenpalast legte Matti zig Mark fuffzig auf den Tresen und ging zur Passkontrolle. Aufgehalten hat ihn niemand. Die letzte S-Bahn gen Westen fuhr wenige Minuten später.
P.S.: Dass Heiner Müller damals in den Abend einführte, habe ich einfach vergessen. Den kannte ich auch nicht.
P.P.S: Ich weiß auch nicht, warum mein Ticket nicht abgerissen wurde. Scheiß drauf.