KonzerterinnerungenDead Can Dance – Berlin, Quartier Latin, 11. Dezember 1988
23.6.2021 • Kultur – Text: Thaddeus Herrmann, Montage: Susann MassuteTote können tanzen! Bevor sich der Autor intensiv mit dem Werk von Dead Can Dance beschäftigte, schaute er sich Ende 1988 schon mal ein Konzert des australischen Duos an.
Beim Aufräumen fand Redakteur Thaddeus Herrmann einen dicken Stapel alter Konzerttickets – allesamt aus Berlin, von Gigs zwischen 1986 und 1994. Die Shows, die beim Betrachten der Karten sofort die Synapsen der Erinnerung flirren ließen, wird er in der Kolumne „Konzerterinnerungen“ aufarbeiten. So archivarisch-neutral wie möglich und so verklärt wie nötig.
Ich weiß nicht mehr, wer mich der Musik Dead Can Dance vorgestellt hat. Vielleicht Freund D, von dem – wiederum vielleicht – in einer anderen Folge dieser Serie noch die Rede sein wird. Ende 1988 war ich noch vollkommen damit beschäftigt, den Back Catalogue des australischen Duos – Lisa Gerrard und Brendan Perry – auseinanderzunehmen und zu verstehen. Was war denn hier los, bitte? Neblig-verkopft einerseits, dann wieder die große, in Hall gebadete, Geste, Referenzen an Alte Musik, gespielt mit Synths und ein Songwriting, das sich eigentlich nicht entscheiden konnte, ob es nun in die Kirche oder auf die Mittelalter-Kirmes gehört. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: natürlich die unfassbare Stimme von Lisa Gerrard, die als unnahbare Lichtgestalt schon Kult war, bevor ich wusste, was das wirklich bedeutet. Zu popkulturellen Ikone wurde sie erst drei Jahre später – als sich The Future Sound Of London ihr Vocal von „Dawn Of The Iconoclast“ vom 1987er-Album „Within The Realm Of A Dying Sun“ schnappten und damit „Papua New Guinea“ bauten. Wer erinnert sich?
Wenn ich zurückblicke, gibt es zwei zwei Sängerinnen, die mich wirklich und nachhaltig und für alle Zeiten geprägt und beeindruckt haben. Lisa Gerrard ist eine davon, die auch ohne große Produktion alles wegbläst, und Elisabeth Fraser von den Cocteau Twins, für die das gleiche gilt.
Nun war Ende 1988 der DCD-Song „Sanvean“ noch nicht geschrieben und das 4AD-Allstar-Projekt This Mortal Coil von mir noch nicht entdeckt worden. Nicht weiter schlimm. Ich ging also mit Freund D ins Quartier Latin auf der Potsdamer Straße in Westberlin. Heute kennt man die Location als Wintergarten – ein Varieté-Theater. Damals waren die Wände schwarz angemalt, es roch nach altem Bier, und weil schon 1988 klar war, dass es bei Dead Can Dance eine gute Idee wäre, wenn das Publikum sitzen würde, war die kleine Arena mit Bänken vollgestellt – bezogen mit schwarzem Kunstleder.
Als erstes fiel mir auf, wie viele Securitys im Raum verteilt waren. Die hatten vor Konzertbeginn nur eine Aufgabe: die Leute vom Rauchen abzuhalten. Denn obwohl an der Tür große Non-Smoking-Schilder hingen, interessierte das das Berliner Publikum natürlich nicht. Es war 1988. So gingen die Security-Männer und -Frauen durch die Reihen und ermahnten alle, die Kippe bitte sofort wieder auszumachen. „Die kommt sonst einfach nicht auf die Bühne, das Konzert fällt aus. Willst du doch auch nicht, oder?“. Ein mittlerer Kampf, weil das im Quartier niemand gewohnt war.
Irgendwann kam die 4AD-Band dann doch auf die Bühne. Ihr damals aktuelles Album „The Serpent's Egg“ musste gerade erschienen sein – und gab zumindest bei einigen Songs eine Art neuer Richtung vor, eine Idee davon, wie es mit DCD weitergehen würde oder könnte. Wer Lisa Gerrard mal live erlebt hat, weiß, dass ab dem Moment, in dem sie auf die Bühne kommt, nichts mehr zählt. Alle sind in ihrem Bann. Fasziniert von ihrer Zurückhaltung, ihrer Abgewandtheit vom Publikum. Sie ist ganz bei sich, versunken in ihre Ideen und ihre Musik. Vom Konzert selbst erinnere ich vergleichsweise wenig. Keine Anekdoten, keine Auffälligkeiten. Wir durchlebten den Moment, die Stille, die Lautheit, gefangen im intimen Wirbel der Musik. Ich wünschte, ich könnte mich daran erinnern, wie Brendan Perry an den Bühnenrand kam und „Severance“ sang. Einen dieser unfassbar deepen Tracks der Band. Es gelingt mir nicht.
Ich gehe davon aus, dass ich einigermaßen verzaubert nach Hause ging. Und alle Platten von Dead Can Dance kaufte, die ich auftreiben konnte. Dieser Abend war vielleicht auch der Beginn meiner Liebe zum Label 4AD – und vor allem zu This Mortal Coil, wo ich aus der Erinnerung heraus, 1989 dann Lisa Gerrard und Elisabeth Fraser wieder traf.