Keine Macht für NiemandBuchrezension: Ein Ton Steine Scherben Songcomic
20.10.2022 • Kultur – Text: Ji-Hun KimZum 50-jährigen Jubiläum des Albums „Keine Macht für Niemand“ von Ton Steine Scherben ist ein Comicband mit vielfältigen Interpretationen der zwölf Songs erschienen. Reflektierende, individuelle und neu einordnende Geschichten sind dabei entstanden, die die alten Lieder teils neu erklingen lassen.
50 Jahre ist es nun her, dass die Band Ton Steine Scherben das Album „Keine Macht für Niemand“ veröffentlichten. 50 Jahre sind nicht nur in der Popgeschichte eine Ewigkeit und man kann heute nur schwer erahnen, was für ein Leben im Kiez SO36 damals so vorherrschte. Sieht man alte Kreuzberger Fotos aus jener Zeit, war alles ziemlich grau, leer und ja, verwahrlost, weil niemand in Westberlin an der Mauer leben wollte. Wenig davon zu erahnen, dass Kreuzberg mal Hort für Hipster, Reiche, Models, anspruchsvolle Gastronomien und Tourismus sein würde. Dieses Jahr wurde bekanntlich der Heinrichplatz in Rio-Reiser-Platz umbenannt, was nicht allen Anrainern gefiel.
„Keine Macht für Niemand“ war seinerzeit so etwas wie eine Blaupause für die hiesige Punk-Kultur. Selbst die Sex Pistols sollten noch fünf Jahre brauchen, um ihr erstes Album herauszubringen. Zumal die Musik schon immer zu gut war, um Punk zu sein. Rio Reisers Texte zwar fast ständig wütend und agitierend sind, aber niemals prollig oder plump. Die Songcomics zum halben Jahrhundertjubiläum reflektieren und visualisieren die zwölf Lieder, die quasi das Fundament für den Zitatkasten des deutschsprachigen Popdiskurses legten. Es stellt sich auch die Frage, ob je ein Album in Deutschland so eine politische Nachwirkung hatte wie dieses zweite Album der Band. Noch heute wird der Albumtitel auf Wände gesprüht – nicht nur in Kreuzberg –, was man von Friede, Freude, Eierkuchen beispielsweise nicht behaupten kann.
Der Großteil der Illustrator:innen in diesen Band waren und sind keine Zeitgenoss:innen von Ton Steine Scherben. Sie saßen weder im besetzten Rauch-Haus, als die Polizei zwecks Räumung anrückte, und wissen wohl genau so wenig wie ich, wer mit Schmidt, Press und Mosch tatsächlich gemeint ist.
Es sind individuelle Perspektiven und Geschichten, die hier erzählt werden. Und sie hinterfragen auch, ob und wie gut die griffigen Slogans und Parolen gereift sind. Vieles, das pflichten auch die Bandmitglieder in den Kommentaren bei, würde man heute nicht mehr so machen. Die eigentliche Kritik gegen das kapitalistische System, der Frust gegenüber den Mächtigen und der resiliente Wille dagegen etwas zu unternehmen, sind aber weiterhin aktuell und virulent. Nur ist die Welt eben noch größer, komplexer, dichter und undurchdringlicher geworden. Sie ist weder schwarz noch weiß, auch im seltensten Fall Yin und Yang, und würden selbst die gesellschaftlichen Probleme und Missstände überwunden, wäre die Utopie von Rio Reiser, der immer wieder vom Paradies und Freiheit spricht, kein Heilsversprechen, sobald der Kampf gegen die systemische Ungerechtigkeit gewonnen ist – ein hippiesker, wenn nicht gar naiver Traum. Von den Gewaltszenarien ganz zu schweigen, wenn dem Firmenchef mit Knarre und Knüppel begegnet wird, oder sich die Schlinge um die weißen Krägen der Machtelite zuschnürt. Aktuell und traurigerweise nicht verjährt sind die Anklagen und Aussagen dennoch.
Der Ventil Verlag hat zuletzt schon mit Songcomics von Tocotronic und Fehlfarben für einen ergebnisreichen Interpretationsraum bedeutender deutschsprachiger Musik gesorgt. Die Graphic-Novel-Geschichten für „Keine Macht für Niemand“ sind so divers wie die Künstler:innen. Es finden sich persönliche Zugänge und Einordnungen. Einige narrativ eng am Songtext gehalten, andere offener und assoziativer. Bianca Schaalburg erzählt in „Die letzte Schlacht gewinnen wir“ ihre Geschichte des 1. Mai 1987 in Kreuzberg nach, als es zu besonders verheerenden Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und der Polizei kam, und am Ende der Supermarkt Bolle an der Wiener Straße abbrannte. Sheree Domingo und Rahel Suesskind erzählen in „Paul Panzers Blues“ den versoffenen Absturz von Paul mit fantastischen Hunden in einer Welt, die auch Miami sein könnte. Sascha Hommer interpretiert „Schritt für Schritt ins Paradies“ auf einem Kreuzberger Kinderspielplatz. Ulli Lusts Erzählung von „Keine Macht für Niemand“ macht die Massentierhaltung zum Szenario des agitierenden Protestsongs. Da wie eingangs erwähnt, die meisten Zeichner:innen in den frühen 70ern noch Quark im Schaufenster waren, ist dieser Comicband nicht verklärend oder romantisierend. Er bietet eine vielfältige und neue Lesart auf diesen Klassiker und macht gerade dadurch dieses Album zeitloser und zugänglicher denn je.