Kein WunderBuchrezension: Deutschland – ein Wirtschaftsmärchen

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Wenn man sein Kopfkino mit dem Schlüsselwort „Wirtschaftswunder“ anschmeißt, dann tauchen solche Bilder auf: endlose VW Käfer, die vom Band und über die Landstraße rollen, sich füllende Einkaufskörbe, dicke, sich glücklich satt essende, dicke Männer – und ein dicker Mann im Besonderen: Ludwig Erhard, der das alles mit seiner klugen, bis heute gerühmten Wirtschaftspolitik in die Wege geleitet hat. Seine ewig rauchend Zigarre, das Kollektivsymbol für den rauchenden Fabrikschlot, die boomende Industrie.

Alles Pustekuchen, schreibt die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann in ihrem Buch „Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen“. Erhard hatte damit nicht viel zu tun: Die Strippen nach dem Krieg zog der damalige Kanzler Konrad Adenauer höchstselbst. Er setzte gegen seinen Wirtschaftsminister (und späteren Kanzler) Erhard sogar richtungsweisende Reformen wie die der Rente sowie das Mitmachen bei der europäischen Wirtschaftsunion EWG (beides im Jahr 1957) durch. Erhard sei auch gegen die bereits 1950 eingeführte Europäische Zahlungsunion (EZU) gewesen. Die wiederum, und nicht ein deutsches Wunder, war der tatsächliche Auslöser der nach dem Krieg florierenden – und zwar in vielen europäischen Ländern florierenden – Wirtschaft gewesen. Installiert hatten sie die Alliierten unter Führung der USA. Ebenso hatten sie die D-Mark eingeführt, als deren Vater gilt Ludwig Erhard zu Unrecht. Und vom Einmischen des Staats in die Wirtschaft hielt er so wenig, dass es völlig falsch ist, ihm den Begriff „soziale Marktwirtschaft“ zuzuschreiben, so Herrmann.

Nein, der Mann, nach dem bis heute Straßen und Schulen benannt sind, dessen Name eine Stiftung trägt, kommt in ihrem Buch echt nicht gut weg. Irgendwie war er glücklicherweise immer an der richtigen Stelle, wenn es Ämter zu verteilen gab, hat sie recherchiert. Sein berühmtes Buch „Wohlstand für alle“ – mehr ein Reader seiner Reden, es ist noch nicht mal von Erhard selbst geschrieben, sondern von einem Ghostwriter. Sowieso: Weniger der Inhalt seiner Texte, sein Denken, als vielmehr das Reden vor Publikum, das er dramaturgisch perfekt beherrschte, hat ihn wichtig für die CDU gemacht. Erhard: eine Wahlkampfsau. Anders als der immer unterkühlt wirkende Adenauer. Der im Gegensatz zu Erhard nachweislich Widerstand gegen die Nazis leistete, während Erhard sich mit deren Personal durchaus zu arrangieren wusste. Was ihn nicht davon abhielt, sich nach dem Krieg als Widerständler zu profilieren. Und mit teils denselben Akteuren Deals zu machen, die schon zu NS-Zeiten die Köpfe in führenden Wirtschaftsunternehmen waren und vom Wiederaufbau profitierten.

Warum diese Geschichten, die bis heute so bestehen? Herrmanns These ist, dass die CDU damals eine Story brauchte, mit der sich so etwas wie eine neupatriotische, neunationale kollektive Identität bilden ließ. Die deutsche Historie – desavouiert. Die Militärmacht – sowieso. Alles zurecht im Arsch, da musste ein neues „wir sind wieder wer“ her.

Ihr erkenntnisreiches, trotz des Themas lockeres Buch hört aber längst nicht mit Erhards politischem Ende, das erst 1966/1967 besiegelt war, auf. Es analysiert die Irrungen der Wirtschaft bis in die Gegenwart hinein. So etwa jene der Bundesbank, die laut der Autorin mit ihrer einseitigen Zinspolitik den – bekanntlich bis heute währenden Exportüberschuss – großenteils zu verantworten hat. „Exportweltmeister“ – noch so ein Wirtschaftswunderbegriff, den sie entlarvt und zeigt: Langfristig ist das permanente Ungleichgewicht für alle schlecht, Überschüsse sind, auch das zeigt die Geschichte, ein Zeichen für Armut. Reale Lohnerhöhungen, die dem technischen Fortschritt folgen, sind dringend nötig, konstatiert die Autorin. Stattdessen: Deutschland, größter Niedriglohnsektor der EU. Und wer hat schon auf dem Schirm, dass die berüchtigte rotgrüne Agenda 2010 auch etwas mit der aus Herrmanns Sicht völlig unnötigen Steuerreform von Rotgrün anno 2000 zu tun hat? Kurz: Es gibt eine Vielzahl neuer Ansichten, zumindest für den Laien. Eine Kontinuität des Unvermögens deutscher Wirtschaftspolitik wird hier präpariert wie sonst selten. Auch wenn es eigentlich eine ernste Angelegenheit ist und viel Kopfschütteln erzeugt, macht es Spaß, das zu lesen oder zu hören.

Deutschland – ein Wirtschaftsmärchen hat 320 Seiten, kostet 24 Euro und ist beim Westend Verlag erschienen. Alternativ gibt es ein Hörbuch.

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